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Die neuen „Russophilen“ und ihr Russlanddiskurs 59
Ende Oktober 1920 erscheint ein weiteres Zeitungsfeuilleton Roths, in dem das
Rußland-Thema wieder aufgenommen wird, der kleine Aufsatz Sowjetausstellung
in Berlin. Auf diese Präsentation der neuen russischen Kultur und Kunst reagiert
Roth allerdings deutlich kritischer, indem er die Ausstellung ungeschminkt eine
„Sowjetpropagandaausstellung“ nennt:
Sie zeigt nicht, was in Russland vorgeht, geschaffen wurde, wirkt, zerstört und baut, son-
dern was in Russland vorgehen soll, nach dem Willen derer, die es befehlen…Dass befohlen
wird, spürt man deutlich. Man befiehlt zum Beispiel: Idealismus, Gewissen, proletarisches
Bewusstsein, Nächstenliebe. Der Zarismus befahl:
Mord, Pogrom, Barbarei. Ein Fortschritt
ist also da. Nur:
Es wird eben befohlen. Der Fortschritt ist anbefohlen. […] Hat man sich mit
der Tatsache vertraut gemacht, dass in Rußland so ziemlich alle Kunst im weiteren Sinn, das
heißt alles Können in das Joch peinlicher Tendenzwirkung gespannt ist, so kann man seine
Freude an beidem haben:
am Ausdruck und an der Wirkung.30
Die wichtigsten Punkte seiner Betrachtungen, die auch für seinen späteren Text
Reise in Russland (1926) evident bleiben, sind die angestrebte Demokratisierung
der Gesellschaft, die Antisemitismusproblematik und das Problem der individu-
ellen Freiheit. Interessant an der Ausstellungsrezension ist vor allem die beglei-
tende politische Kommentierung: Das politische System als „anbefohlen[er]
Fortschritt“ wirkt auf ihn doch suspekt, und die Errungenschaften des Systems
werden, wenn auch anerkannt, so jedoch nicht als authentische empfunden.
Eine eindeutige Zuschreibung konkreten politisch-ideologischen Engage-
ments erweist sich im Fall von Joseph Roth sohin als problematisch und kaum
hilfreich. Roths Gesinnung lässt sich nämlich weniger mit einer bestimmten
ideologischen Maxime verknüpfen; vielmehr wurzelt sie in seiner existentiellen
Problematik, deren Zentrum die Frage nach der Entfremdung des modernen
Menschen bildet. Die Zeit der Massenbewegungen, der „unterschiedlichen Kol-
lektivismen“31 zwinge aber das Individuum in die ambivalente Situation, sein
Zugehörigkeitsgefühl als Teil einer Masse, eines Kollektivs, einer Partei, einer
politischen oder sonstigen Glaubensgemeinde mit seinem Selbstverständ-
nis und Persönlichkeitsgefühl abzugleichen und zu überprüfen. In Deutsch-
land, so Roth, „muß ich auch […] wenn ich keinen Typus, keine Gattung, kein
Geschlecht, keine Nation, keinen Stamm, keine Rasse repräsentiere, dennoch
30 Ders.: Sowjetausstellung in Berlin. In: ebd., S. 387f.
31 Robert Musil:
Der Dichter in dieser Zeit. In:
ders.:
Gesammelte Werke in neun Bän-
den. Bd. 8. Reinbek b.H.: Rowohlt 1978, S. 1248.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur