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Alexander W.
Belobratow62
Träger des fleischgewordenen Christentums, das zur geschlagenen einen Wange auch
die andere bietet.38
Augenscheinlich entwirft hier Robert Müller ein Bild vom Bolschewismus,
das sich mit der wirklichen politischen Bewegung kaum deckt. In seinem Essay
Bolschewik und Gentleman sowie in den 1919 und 1920 erschienenen Auf-
sätzen Revolutionäre Typen (Das Ziel III, Leipzig 1919) und Die Kulturpolitik
des Bolschewismus (Der Neue Merkur, September 1920) kommt es zur voll-
ständigen Enthistorisierung des Phänomens „Bolschewismus“. Günter Helmes
ist zuzustimmen, wenn er bemerkt: „In eben der Weise, in der er in früheren
Abhandlungen vom ‚Germanen‘ oder vom ‚Deutschen‘ sprach, spricht er nun
vom ‚Bolschewiken‘.“39 Bei der Darstellung der geistigen Entwicklung des neuen
bolschewistischen Staates glorifiziert Müller dessen Kulturpolitik:
In der Tat hat das jetzige russische System zwar die russische Wirtschaft annihiliert […].
Unbestritten dagegen ist von allen Augenzeugen aller Nationen der außerordentliche
kulturpolitische Fortschritt, den die jetzige russische Gesellschaftsordnung mit sich
gebracht hat.
Der Grund ist einfach. Staat ist dem Bolschewiken eine ideologische Anstalt. […]
Kulturpolitische Maßnahmen werden gegen die finanzielle Kalkulation durchgeführt.
Darum ist Rußland das Dorado aller kulturell interessierten […] Individuen geworden.
Die englischen, besonders die französischen und die deutschen, sogar die amerikani-
schen Künstler schwärmen für Moskau, Lenin und Lunatscharsky. […] Das ist die Wir-
kung einer geistigen Forderung. Sie ist plötzlich, von Geistigen geführt, von Millionen
getragen.40
Im Unterschied zu Doderer, Roth oder Zweig fehlen Müllers Einschätzungen
authentische Russland-Erfahrungen; er war nie in Russland und hatte auch nicht
vor, in das bolschewistische Land zu reisen. Vielmehr sind sie aus Texten Ande-
rer sowie aus zeitgenössischen Diskurslagen entlehnt und potenziert. Interes-
santerweise fallen diese Bewertungen auch mit einzelnen der eher skeptischen
Joseph Roths zusammen, in dessen ersten Russland-Reportagen ebenfalls die
Hoffnung auf eine „neue Welt“ tonangebend ist: „Denn eine neue Art, zu schaf-
fen und aufzunehmen, zu schreiben und zu lesen, zu denken und zu hören, zu
lehren und zu erfahren, zu malen und zu betrachten, ist hier [in Sowjetrußland,
38 Ders.:
Friedensersatz. In:
ders.:
Kritische Schriften II. Paderborn:
Igel 1995, S.
41–43,
zit. S. 41.
39 Günter Helmes: Robert Mueller: Themen und Tendenzen seiner publizistischen
Schriften. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1986, S. 216.
40 Robert Müller:
Die Kulturpolitik des Bolschewismus. In:
ders.:
Kritische Schriften II,
S. 473–475, zit. S. 473f.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur