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Primus-Heinz
Kucher66
Gedichte, Hymnen auf die menschliche Güte, vor allem jenes Drama der Brü-
derlichkeit, von der ich träumte, in russischem Gewande (ein Zeichen der Zeit)
mit dem Titel Tanja.“3 Der Großteil der zeitgenössischen Kritiker, die das Stück
im Zuge seiner fünf Wiener Aufführungen sah, rezipierte es als Reflex auf die
Veränderungen in Russland, wobei die Breite der Reaktionen wohl auch der Ver-
bindung aus expressionistischer Sprache mit ethischer und politischer Thematik
geschuldet war: Von der Arbeiter-Zeitung über den expressionistischen Aufbau
und den (klar links positionierten) Becsi Magyar Ujsag, die Satire-Zeitschrift
Kikeriki, die liberale Neue Freie Presse, die katholisch-konservative Reichspost bis
hin zur Wiener Zeitung spannte sich ein bemerkenswerter Bogen, in dem ein
entsprechend breites Spektrum an Einschätzungen, darunter auch harsche Ver-
werfungen, artikuliert wurden.
Während der Kritiker der Wiener Zeitung „dieses Stück wildestes Revoluti-
onsrußland“ als „in viel zu viele tönende, hallende Worte eingehüllt“,4 das heißt
zu expressionistisch eingefärbt wahrnahm, warf das Neue 8 Uhr Blatt explizit
die Frage auf: „[W] ozu dichtet man so dämonisch-expressionistisch“, um die
im Stück identifizierbaren Revolutionssymbole auf den Status von „billigen und
geschmacklosen Effekten“ zu reduzieren.5 Überraschenderweise lobte der Kriti-
ker des Kikeriki das „Problem des Sittlichen im Menschen“, im Besonderen den
„endlichen Sieg des Guten durch reine, opferfähige Liebe“ ebenso als gelungen
gestaltet wie den Umstand, dass „dieses Thema in eigenartiger Weise (stofflich
und bühnentechnisch) äußerst wirksam gelöst“ worden sei. Zudem sei es von
Ida Roland in der Hauptrolle getragen worden, welche eine „neue Glanzleistung“
geboten hätte, weshalb das Stück „tiefen Eindruck“ hinterlassen habe.6 Dagegen
verwarf es Robert Müller als gleichermaßen „kraß“ sowie als „dramaturgisches
Versagen“, wobei das „Russische […] Seelenkulisse“ [ist].7 Von „überragenden
3 Ernst Weiß: Bruchstücke einer Autobiographie. Notizen über mich selbst. Online
unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/-4406/1 (letzter Zugriff: 26.9.2016)
4 N.N.: Deutsches Volkstheater. In: Wiener Zeitung (Wiener Abendpost,
24.12.1919), S. 22.
5 –tt–:
Deutsches Volkstheater. In: Neues 8 Uhr Blatt (24.12.1919), S. 4.
6 N.N.: [o.T.]. In: Kikeri, (11.1.1920), S. 6; ähnlich auch in der konservativ-klerikalen
Reichspost (24.12.1919), S.
6, wo es u.a. hieß:
„jedes Bild vollgestopft mit lärmendem,
gräßlichem Geschehen“.
7 Robert Müller:
Tanja. In:
ders.:
Neue Wirtschaft. H.
3 (1919–20), zit. nach:
ders.:
Briefe
und Verstreutes. Mit einer unveröffentlichten Gedenkrede auf Robert Müller von
Albert Paris Gütersloh. Hgg. von Eva Reichmann in Zusammenarb. mit Thomas
Schwarz. Paderborn: Igel 2997, S. 163–168, bs. S. 164 u. 167.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur