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Russlandbilder bei Weiß, Musil, Lania und Rundt 67
Leistungen“ im Schauspielerischen sprach auch Raoul Auernheimer in seinem
Bericht für die Neue Freie Presse, in dem er differenzierter als viele seiner Kol-
legen auf die russische Einbettung einging und diese in einen über den unmit-
telbaren Zeitbezug hinausgreifenden, Fedor Dostoevskij als Schlüssel-Referenz
aufrufenden Rahmen platzierte:
Alles in dem Stück ist russisch und schmeckt irgendwie nach Dostojewski: der Name
und Charakter der Heldin, die eine kleine Tänzerin und eine Dirne ist, die Umwelt, die
[Personen]. Tanja tötet bereits im ersten Bild ihr eigenes Kind […][;] sie wird ungefähr
zur gleichen Zeit die Geliebte eines Bombenattentäters, von dem sich später herausstellt,
daß er ihr aus dem Russisch-japanischen Krieg zurückgekehrter Geliebter und Vater des
kleinen Ilja ist; sie verliebt sich in den Attentäter, aber zu spät, nachdem dieser bereits
den Fürsten Urussow, die Verkörperung des unmenschlichen russischen Militarismus,
getötet und sie ihn verraten hat; sie wird wahnsinnig, kommt ins Irrenhaus, stürzt sich
aus dem Fenster in den Spitalshof hinab und verscheidet auf einem Misthaufen, von
einem ganz im Geist Dostojewskis sprechenden jungen Popen mit Heilandsworten
getröstet […][.] Die Grobheit dieser in dem gewissen allerneusten Sturm- und Drang-
thema sich abwickelnden Vorgänge gipfelt äußerlich in der Entrollung der roten Revo-
lutionsfahne am Schlusse des […] dritten Bildes. Hier geht das Russische des Stückes in
das Zeitgemäße über und erklärt sich innerlich.8
Im Kontext der zeitgenössischen expressionistischen Dramenkonzeptionen
nahm Weiß mit seiner Tanja zwar keine exponierte Position ein – dafür kam es
bereits recht spät und präsentierte sich, etwa im Vergleich mit Arnolt Bronnen,
Oskar Kokoschka oder Ernst Toller, als formal, thematisch sowie im Hinblick auf
die Exposition von Körperlichkeit, Gewalt und De-Personalisierungspotentialen
letztlich doch als recht traditionell.9 Doch sein Drama bündelte am Ausklang des
expressionistischen Jahrzehnts nochmals vor einer nicht bloß von typologischen
Wandlungsutopien unterlegten oder begleiteten Realität Elemente, die auf beun-
ruhigend-aufrüttelnde Diskursebenen verwiesen: auf irrationale, abgründig-
eruptive Dimensionen und Handlungsentscheidungen, welche festgeschriebene
Gender-Rollen aus den Angeln hoben und radikalisierten (wie zum Beispiel jene
der Verschränkung von Mutterschaft, Künstlerinnenattitüde und Gewaltphanta-
sien). Nach brutaler Peinigung des Sohnes Ilja durch körperliche Übergriffe bis
hin zu dessen Hungertod sowie nach sprachlich wahnartigen Rededuellen im
zweiten Akt zwischen Tanja und ihrem Geliebten, dem Revolutionär Wladimir,
8 R.A. [d.i. Raoul Auernheimer]: [o.T.]. In: Neue Freie Presse (25.12.1919), S. 18.
9 Zur Geschlechter-Thematik im (Spät-)Expressionismus vgl. bes. die Einleitung zu
Themen und Problemen der Forschung in: Frank Krause (Hg.): Expressionism and
Gender. Expressionismus und Geschlecht. Göttingen: V&R 2010, S. 11–20.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur