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Primus-Heinz
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die, wiewohl eher unbeabsichtigt, visionär vorausgreift. Indem er ihr einerseits
lächelnd zustimmt – letzteres mit Seitenblick auf die bei Trotzki eingeräumte
Lehrzeit, „notgedrungen beim [Klassen-]Feind“
–, konstatiert er die Gefährlich-
keit dieser Perspektive und stempelt ihn, noch vor dem Einsetzen der Parteikam-
pagne, zu einem Abweichler, zu einem „Rechten“.33
Eine weitere Ebene der Auseinandersetzung mit Aspekten russisch-sow-
jetischer Kultur und künstlerischen Entwicklungen bot einerseits die Bespre-
chungstätigkeit Lanias in der Arbeiter-Zeitung, andererseits, noch wichtiger,
seine Filmarbeit Ende der 1920er Jahre. 1926 und 1928 stellte der russische
Avantgardist Dziga Vertov, ein „unermüdlicher Entdecker filmischer Aus-
drucksweisen“,34 jene beiden Filme fertig, die das Konzept des ‚Kinoglaz‘, des
revolutionären dokumentarischen Kino-Auges, erstmals konsequent durchge-
staltet haben:
Sestaja cast mira (dt. Ein Sechstel der Erde) sowie Odinnadtzky (Das
elfte Jahr). Oft als visuelle Symphonie bezeichnet, widmet sich letztgenannter der
Industrialisierung der Ukraine durch den Bau der großen Wasserkraftwerke am
Fluss Djnepr. Unter Verwendung von Materialien aus diesem Film sowie ihnen
zur Verfügung stehender Archiv- beziehungsweise Schnittmaterialien legten der
Dokumentarfilmer Albrecht Viktor Blum und Leo Lania einen als eigenes Werk
deklarierten Montagefilm unter dem Titel Im Schatten der Maschine vor. Dieser
kam 1928, knapp vor der Vorführung von Vertovs Film, als erster Beitrag des
von Willi Münzenberg maßgeblich finanzierten Volksfilmverbandes in Deutsch-
land und Österreich in ausgewählten Kinos zur Vorführung.35 In Wien wurde er
sowohl von Fritz Rosenfeld als auch von Ernst Fischer als wegweisender Beitrag
zur proletarischen dokumentarischen Filmkunst, insbesondere aufgrund einer
sichtbar werdenden Dominanz des Maschinellen über die menschliche Arbeit
sowie als Vision kapitalistischer Produktionsweisen und zunehmender Entfrem-
dung, aufgenommen, während in Berlin Vertov gegen diese Vorgangsweise der
Re-Montage, für ihn ein Plagiat, heftig protestierte.36 Dass die beiden Filme doch
33 Leo Lania: Der Feldherr als Ästhet. In: Prager Tagblatt (9.7.1924), S. 3.
34 Vgl. dazu die Besprechung anlässlich der ersten DVD-Ausgabe, die beide Filme
enthält: Dominik Kamalzadeh: Die Wellen einer Revolution. In: Der Standard
(12.2.2010), online unter: http://derstandard.at/1265828190133/Die-Wellen-einer-
Revolution (letzter Zugriff: 30.10.2016).
35 Vgl. Jeanpaul Goergen:
Bildschneider und Tatsachenfilmer. Filme von Albrecht Viktor
Blum (1928–1930). In:
Filmblatt 16/2001, S.
4–10, online unter:
http://www.filmblatt.
de/pdf/FB16.pdf (letzter Zugriff: 30.10.2016).
36 Vgl. ebd., S.
4, bzw. Nina Power:
Vertov’s World. In:
Film Quarterly, Nr.
4/2010, S.
65–
69; Fritz Rosenfeld: Zwei Filme der Wirklichkeit. In: Arbeiter-Zeitung (17.5.1929),
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur