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Russlandbilder bei Weiß, Musil, Lania und Rundt 77
unterschiedliche Akzente setzen, wird nicht nur im Zuge eines Vergleichs der
kürzlich restaurierten Filmversionen deutlich. Die bei Vertov affirmativ akzen-
tuierte und ästhetisierte Perspektive der Industrialisierungsdynamik, sichtbar in
gewaltigen Maschinenbildern und beeindruckenden Kameraperspektiven, hat
zum Beispiel Fischer anhand des Blum-Lania-Kurzfilms gegenteilig aufgenom-
men: als subtile Aufforderung zur „Rebellion gegen eine Gesellschaftsordnung,
die den Menschen acht Stunden lang an die Maschine kettet und ihn am Ende
unter die Räder wirft, die er einst mit großer Geduld bediente!“37 Wie immer
man den Umstand des plagiat verdächtigen Umgangs mit bereits verwendetem,
aber durch die Re-Montage auch erst zugänglich gewordenen Filmmaterials
beurteilen mag, für die Filmgeschichte ergibt diese Konstellation interessante
Einsichten: erstens auf der materiellen Ebene die Rettung und somit Kenntnis
von Filmsequenzen, die sonst verloren gegangen wären, und zweitens, vielleicht
wichtiger, das visuelle Potential dieser Sequenzen, das durch Schnitte und Mon-
tagen offenbar unterschiedliche, auch gegenläufige Wirkungen und Intentionen
erzielen beziehungsweise bedienen konnte.38 Insofern fügt sich der Film und
dessen Zustandekommen in die – wie schon im Fall des Trotzki-Feuilletons –
ideologiekritische und im Ansatz subversive Strategie Lanias, auf ästhetisch-
politische Grundsatzkonzepte mit eigenwilligen Interpretationen zu reagieren.
4 Amerika-Russland-Konfigurationen
Nahezu zeitgleich zu Lili Körbers Reportage-Bericht Eine Frau erlebt den roten
Alltag erschien 1932, ebenfalls bei Ernst Rowohlt, das ‚Russlandbuch‘ Der Mensch
wird umgebaut von Arthur Rundt, der zuvor mit dem Band Amerika ist anders
(1926) sowie dem ebenfalls gesellschaftliche Aspekte in den USA behandelnden
Fortsetzungsroman Marylin in der Neuen Freien Presse hervorgetreten war.39 Mit
Rundt verbanden zeitgenössische Leserinnen und Leser keine ideologischen
Vorerwartungen, und sein Amerika-Band ließ sich weder in die Gruppe der
durch Technodynamik in Bann geschlagenen Euphoriker reihen, noch in jene
S. 7; Ernst Fischer: Im Schatten der Maschinen. In: Arbeiter-Zeitung (19.5.1929),
S. 17f.
37 Ernst Fischer: Im Schatten der Maschinen. In: Arbeiter-Zeitung (19.5.1929), S. 17f.
38 Vgl. Power, Vertov’s World, S. 68f.
39 Zu Rundt vgl. Evelyne Polt-Heinzl:
Arthur Rundt. Online unter:
http://litkult1920er.
aau.at/?q=lexikon/rundt-arthur (letzter Zugriff: 31.10.2016) sowie Primus-Heinz
Kucher: Arthur Rundt (1881–1939). In: Literatur und Kritik. H. 513–514/2017,
S. 99–109, bes. S. 100f.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur