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Primus-Heinz
Kucher78
der prononcierten Kritiker, die – wie Brecht und Kisch – an der tayloristischen
Arbeitswelt und deren Ausbeutungsverhältnisse Kritik übten oder sich, wie zum
Beispiel Stefan Zweig, an der vorgeblichen Nivellierung kultureller Leistungen
unter dem Reizwort „Monotonisierung der Welt“40 stießen. Vielmehr zielte
Rundt in seinen Amerika-Skizzen auf das Erfassen soziologisch-habitueller Ver-
haltensweisen und erprobte dabei Beschreibungsmuster, die in sachlicher Dik-
tion strukturelle Aspekte in den Blick zu bekommen suchten. Damit knüpfte er
an Modelle an, wie sie vor ihm bereits Robert Müller in seinen auf Rassen und
Physiognomien abgestellten Essays seit 1912/13 sowie in der Schrift Bolschewik
und Gentleman ausgelotet hatte.
Schon im ersten Kapitel seines 25 Abschnitte umfassenden Russlandbuches
antizipiert Rundt, was ihm als Triebkraft seiner Reise erschien: Nicht einzelne
mehr oder weniger überwältigende Eindrücke von industriellen Leistungen,
die er genau, aber auch mit ironischer Distanz registriert, sondern vor allem
eine ihm zentral erscheinende, teils offen, teils verborgen wirkende „Systema-
tik im Dienst einer neuen Idee vom Menschensein“, die hinter der Fassade des
neuen Russlands fassbar werde.41 Die Elemente, die sich zu jener neuen Sys-
tematik im Zeichen des Kollektivs fügen, entnimmt Rundt einerseits aus eher
grundsätzlichen Erfahrungen wie etwa der Kenntnis der ‚Arbeitsinstitute‘, die
Alexej Gastev kreiert hat, der zugleich für die faszinierende Verbindung aus
Technikeuphorie und Proletkult zu Beginn der 1920er Jahre unter dem Motto
„Sei Ingenieur deines Lebens!“ steht [AR 29]. Andererseits verdanken sie sich
zahlreichen Alltagsbegegnungen, die Rundt stets mit Grundsatzfragen, mit
habituellen Aspekten zu verknüpfen sucht.42 Es sind dies Fragen, die den priva-
ten wie den öffentlichen Bereich gleichermaßen tangieren, etwa inwieweit ein
religiöser Vergleich als marxistisch oder unmarxistisch gilt, oder welchen Stel-
lenwert die Familie als potenzieller „Schauplatz und Hort jener kleinen senti-
mentalen Freuden, die das System als bourgeoises Behagen verachtet“ [AR
58],
in der noch nicht kollektiv durchorganisierten (aber angestrebten) Zukunft
einnehmen könne. Es sind dies auch Fragen, die an den bis zur Revolution
40 Vgl. Rebecca Unterberger:
Monotonisierungsdebatte. Online unter:
http://litkult1920er.
aau.at/?q=stichworte/monotonisierungsdebatte (letzter Zugriff: 31.10.2016).
41 Vgl. Arthur Rundt: Der Mensch wird umgebaut. Berlin: Ernst Rowohlt 1932, S. 15;
im Text künftig mit der Sigle [AR] zitiert.
42 Zu Gastjew und dessen Konzepten vgl. Jutta Scherrer:
Die Behauptung der Macht:
Der
Ich-Verlust. In: Der Spiegel Special Geschichte (18.12.2007), online unter: http://
magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/54841278 (letzter Zugriff: 1.11.2016).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur