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E. Fischers Auseinandersetzung mit der Sowjetunion 89
Es war ein Lehrbuch gegen mich, gegen den romantischen Intellektuellen Leonid, für
den die Revolution nicht Mittel zum Zweck ist, sondern sich selbst bezweckt, als per-
manente Erschütterung, Reinigung, Befreiung, als Erlebnis der Selbstüberschreitung
des Menschen, als Religion. […] Was viele meiner Generation, meines Jahrhunderts
mitriß, was ich in Leonid zu gestalten versuchte, war die „Revolution an sich“. [EuR 193
bzw. 197]
Zwar bezeuge Leonids gewaltsames Ende Fischers „aufrichtige[s] Verlangen, den
Bohemien […], den Anarchisten, den selbstsüchtigen Intellektuellen zu über-
winden und […] in unbedingter Disziplin einer Kampfgemeinschaft anzugehö-
ren“, aber zugleich wäre eine Revolution ohne das in ihm verkörperte Pathos
eines notwendigen Moments beraubt [ebd.].
Als einen Statthalter dieses Pathos zeichnet Fischer Lev Trockij in dem zwei
Wochen nach seinem Lenin-Essay folgenden Artikel „Tragödie:
Trotzky“. Fischer
interpretiert Trockijs persönliche Tragödie als diejenige der Revolution selbst,
das heißt, als den notwendig zwischen der Idee und den Resultaten der Revolu-
tion auftretenden Widerspruch. Trockij sei durch seine Rolle als Organisator der
Roten Armee zum Heros der Oktoberrevolution aufgestiegen und könne sich
nun mit dem „Abfall der Wirklichkeit von der Idee“ nicht arrangieren. So sei er,
in dem sich „das ganze Pathos der Revolution verkörpert“,25 in Gegensatz zu Sta-
lin geraten, der die Resultate der Revolution mit „Handwerkerfleiß“ zu sichern
vermocht habe. Die Schöpfung, so formuliert Fischer die Pointe des tragischen
Prozesses, habe ihren Schöpfer als obsolet, ja gefährlich gewordene Erscheinung
verstoßen.26
3 „Russentum und Amerikanertum“
Aus demselben Monat, in dem die beiden Essays über Lenin und Trockij in
der Arbeiter-Zeitung veröffentlicht worden sind, stammt auch Fischers Text
„Wandlung des russischen Geistes“, der im Novemberheft der sozialdemokrati-
schen Monatsschrift Der Kampf erschienen ist. Einleitend betont Fischer darin
die Faszination, die von der Oktoberrevolution ausgehe, da sie nicht allein ein
25 Ders.: Tragödie: Trotzky. In: Arbeiter-Zeitung (20.11.1927), S. 17.
26 In seiner Rezension von Trockijs Autobiografie Mein Leben, die Fischer „ein faszi-
nierendes Buch“ nennt, hebt er Trockijs Selbsterkenntnis von seiner Entfernung von
den Erfordernissen der sowjetischen Realpolitik hervor (vgl. E[rnst] F[ischer]:
Trotzki
schreibt Memoiren. In: Arbeiter-Zeitung (5.1.1930), S. 5f.).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur