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E. Fischers Auseinandersetzung mit der Sowjetunion 91
Veresaev und Aleksandr Tarasov-Rodinov dienen vor allem dazu, die ‚glühende‘
Sachlichkeit und unvermeidliche Härte des sozialistischen Aufbaus zu demonst-
rieren. Fischer legitimiert diese Härten mit der gleichen Gedankenfigur, von der
er schon in den zuvor behandelten Texten über die Akteure der Oktoberrevolu-
tion Gebrauch gemacht hat:
„[D]
ie bolschewistische Revolution hat gesiegt, aber
sie hat gesiegt um den Preis der Revolution.“ [WRG 502] Die Kunst müsse in
dieser Situation ihrer revolutionären Funktion gerecht werden und „eine Waffe
in diesem Kampf “ sein. Daher stellt sich für Fischer mit Blick auf Gladkovs
Roman auch nicht die Frage nach einer stilistischen Einordnung, denn er ist gar
kein „Stück Literatur, sondern ein Stück Leben“ [WRG
504]. An dem Roman sei
die Wandlung des russischen Geistes abzulesen; er bekenne sich zu Wirklichkeit,
Härte und Präzision, er sei „der Geist des Marxismus, der Geist der Revolution“
[WRG 507].
Kurz darauf veröffentlicht Fischer als Gegenstück zu dem Artikel über Glad-
kov eine Rezension von John Dos Passos’ Roman Manhattan Transfer unter dem
Titel „Der Geist des Amerikanertums“. Hier konfrontiert er Gladkovs „Hymnus
einer neuen Ordnung“ mit Dos Passos’ „Hymnus der Unordnung, […] d[er]
Lust an der elementaren Sinnlosigkeit“.28 Fischer deutet die beiden Werke als
antithetische Idealtypen: „Russentum und Amerikanertum, Wille zu kollektiver
Lebensgestaltung und Wille zu anarchischer Lebenstrunkenheit, Geist des Sozia-
lismus und Geist des Kapitalismus
– in diese Formeln kann man die Gegensätze
pressen, die sich hier in zwei Büchern konzentrieren.“ Was Fischer an Manhat-
tan Transfer so faszinierend findet, ist die Intensität des Romans, dessen „berau-
schende Unmittelbarkeit“ und das Erzähltempo, das mit dem „Flimmern eines
Films“ verglichen wird. Bei der näheren Bestimmung der Erzähltechnik hebt
Fischer auch das „Nebeneinander als Zeitgefühl, als Lebensgefühl“ hervor und
kommt zu dem Befund, dass hier „die Systemlosigkeit des Lebens […] zur epi-
schen Form“ werde. Die Haltung des Erzählers nennt Fischer „wunderbar tradi-
tionslos“ und sieht in ihm einen „Forscher“, der Experimente zur literarischen
Erfassung der sozialen Gegenwart macht. Allerdings „bejaht [der Erzähler] die
bestehende Ordnung der Dinge, als sei sie ein Stück Natur“. Bei aller Würdigung
von Dos Passos’ zeitgemäßer Erzähltechnik erblickt Fischer daher in Manhattan
Transfer auch die Gefahr, dass durch die fesselnde Kraft des Werks der Kapitalis-
mus „auf einmal zum geistigen Phänomen“ werde.29
28 Ders.: Der Geist des Amerikanertums. In: Arbeiter-Zeitung (15.1.1928), S. 17.
29 Vgl. ebd.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur