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Jürgen
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Alle Iliaden und Nibelungenlieder verblassen vor der kühnen Schönheit des Kollektiv-
heldentums, von dem Tretjakow berichtet, Achilles und Siegfried, die heroischen Ideale
der Vergangenheit, erscheinen wie ein Dreck gegen den Kollektivisten Tschebotarjow
und den Traktorführer Kossow.40
Das Selbstverständnis Tret’âkovs steht für Fischer ganz im Lichte einer proleta-
risch-revolutionären Funktionsbestimmung von Literatur, wie sie Ottwalt defi-
niert hat. „Tretjakow ist mehr als ein Dichter, er ist der Berichterstatter einer neuen
Welt; […] er will in seiner Kunst die Welt nicht spiegeln, sondern durch sie mit-
helfen, sie zu ändern.“ Dabei rechnet Fischer es Tret’âkov hoch an, dass er nicht
„mit demagogischer Unverfrorenheit die Sowjetunion als Paradies schildert“,
sondern deutlich mache, dass dort „eine ganze Generation um der Zukunft wil-
len geopfert“ werde. Wie schon in dem Essay „Wandlung des russischen Geistes“
betont Fischer auch hier die „Härte und Grausamkeit“ des proletarischen All-
tags. In den von Tret’âkov geschilderten Landarbeitern der Kolchose „Kommu-
nistischer Leuchtturm“ sieht er „unerbittliche Frontsoldaten einer Idee“, die um
dieser Idee willen ihr persönliches Leben ruinieren. Die individuellen Leiden
verschwinden für Fischer aber hinter dem Triumph des sozialistischen Aufbaus.
Wenn er hier „die Zahlen des Fünfjahrplanes“ als „Symphonie der Revolution“
erklingen lässt,41 verrät dies das Vorwalten einer objektivistischen Geschichts-
philosophie, die ihre Legitimation in der Statistik findet.
5 Verabsolutierung des Politischen im Zeichen des
sowjetischen Fünfjahresplans
Hatte Fischer in seinem Essay „Mathematik der Hölle“ noch 1931 den Zahlen-
fanatismus als „ideologische[n] Ausdruck der kapitalistischen Welt“42 gewertet,
so berauscht er sich nunmehr nicht nur in der Tret’âkov-Besprechung, son-
dern auch in dem Artikel „5 Jahre, die die Welt verändern“ an Zahlenmaterial
über die Industrialisierung in der Sowjetunion und entnimmt diesem „Pathos
der Zahlen“ und Statistiken „Signale aus einer Welt der Arbeit, der Hoffnung
und des Aufstieges“.43 Dieser Artikel über zwei Berichte über die Realisierung
40 Ders.: Feld-Herren. In: Arbeiter-Zeitung (13.3.1932), S. 16.
41 Vgl. ebd.
42 Ders.: Mathematik der Hölle. In: Arbeiter-Zeitung (9.8.1931), S. 9.
43 Ders.:
5 Jahre, die die Welt verändern. In:
Arbeiter-Zeitung (6.11.1932), S.
14. Rabin-
bach führt den extrem prosowjetischen Tenor dieses Artikels auch darauf zurück,
dass die Ausgabe der Roten Fahne zum 15. Jahrestag der Oktoberrevolution konfis-
ziert worden war und Fischer ein Signal der Solidarität mit der UdSSR setzen wollte
(vgl. Anson G. Rabinbach: Ernst Fischer and the left opposition in Austrian Social
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur