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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Seite - 94 -
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Jürgen Egyptien94 Alle Iliaden und Nibelungenlieder verblassen vor der kühnen Schönheit des Kollektiv- heldentums, von dem Tretjakow berichtet, Achilles und Siegfried, die heroischen Ideale der Vergangenheit, erscheinen wie ein Dreck gegen den Kollektivisten Tschebotarjow und den Traktorführer Kossow.40 Das Selbstverständnis Tret’âkovs steht für Fischer ganz im Lichte einer proleta- risch-revolutionären Funktionsbestimmung von Literatur, wie sie Ottwalt defi- niert hat. „Tretjakow ist mehr als ein Dichter, er ist der Berichterstatter einer neuen Welt; […] er will in seiner Kunst die Welt nicht spiegeln, sondern durch sie mit- helfen, sie zu ändern.“ Dabei rechnet Fischer es Tret’âkov hoch an, dass er nicht „mit demagogischer Unverfrorenheit die Sowjetunion als Paradies schildert“, sondern deutlich mache, dass dort „eine ganze Generation um der Zukunft wil- len geopfert“ werde. Wie schon in dem Essay „Wandlung des russischen Geistes“ betont Fischer auch hier die „Härte und Grausamkeit“ des proletarischen All- tags. In den von Tret’âkov geschilderten Landarbeitern der Kolchose „Kommu- nistischer Leuchtturm“ sieht er „unerbittliche Frontsoldaten einer Idee“, die um dieser Idee willen ihr persönliches Leben ruinieren. Die individuellen Leiden verschwinden für Fischer aber hinter dem Triumph des sozialistischen Aufbaus. Wenn er hier „die Zahlen des Fünfjahrplanes“ als „Symphonie der Revolution“ erklingen lässt,41 verrät dies das Vorwalten einer objektivistischen Geschichts- philosophie, die ihre Legitimation in der Statistik findet. 5 Verabsolutierung des Politischen im Zeichen des sowjetischen Fünfjahresplans Hatte Fischer in seinem Essay „Mathematik der Hölle“ noch 1931 den Zahlen- fanatismus als „ideologische[n] Ausdruck der kapitalistischen Welt“42 gewertet, so berauscht er sich nunmehr nicht nur in der Tret’âkov-Besprechung, son- dern auch in dem Artikel „5 Jahre, die die Welt verändern“ an Zahlenmaterial über die Industrialisierung in der Sowjetunion und entnimmt diesem „Pathos der Zahlen“ und Statistiken „Signale aus einer Welt der Arbeit, der Hoffnung und des Aufstieges“.43 Dieser Artikel über zwei Berichte über die Realisierung 40 Ders.:  Feld-Herren. In:  Arbeiter-Zeitung (13.3.1932), S.  16. 41 Vgl. ebd. 42 Ders.:  Mathematik der Hölle. In:  Arbeiter-Zeitung (9.8.1931), S.  9. 43 Ders.:  5 Jahre, die die Welt verändern. In:  Arbeiter-Zeitung (6.11.1932), S.  14. Rabin- bach führt den extrem prosowjetischen Tenor dieses Artikels auch darauf zurück, dass die Ausgabe der Roten Fahne zum 15.  Jahrestag der Oktoberrevolution konfis- ziert worden war und Fischer ein Signal der Solidarität mit der UdSSR setzen wollte (vgl. Anson G. Rabinbach:  Ernst Fischer and the left opposition in Austrian Social
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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Titel
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Untertitel
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Autor
Primus-Heinz Kucher
Herausgeber
Rebecca Unterberger
Datum
2019
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-631-78199-9
Abmessungen
14.8 x 21.0 cm
Seiten
466
Kategorie
Kunst und Kultur
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