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Miszellen zum Amerika-Russland-Diskurs 101
werden dabei immer wieder als negative Kontrastfolie beschworen.15 Um etwa
den ‚Umbau‘ von Zuwanderern in idealtypische Sozialisten zu veranschaulichen,
wählt Haydu als Fallbeispiel „Miß Eve“, eine 18-jährige wohlstandsverwahr-
loste Newyorkerin, die aus Fadesse auf Reisen gegangen, in Russland „in eine
Versammlung der Jungkommunisten“ geraten – und geblieben ist. Miß Eve sei
nunmehr überzeugte Kommunistin,16 wie zahllose andere Amerikaner auch:
Sie
haben die „Hoffnung verloren, das Leben in dem amerikanischen Eldorado wei-
terfristen zu können“.17
Um die Durchschlagskraft des Sozialismus hervorzukehren, verschlug es
Haydu wohl nicht von ungefähr auf ‚Konvertiten‘ aus den Vereinigten Staaten, in
denen ein ‚Red Scare‘ die politische Szenerie mit prägte.18 Als US-amerikanisches
Spezifikum erläuterte Alfred Tyrnauer um 1926 potenziellen österreichischen
Auswanderern, dass sich in den USA keine „politische Arbeiterbewegung“ for-
miert habe; „sogar die schlechtestbezahlten amerikanischen Arbeiter [sind] in
europäischem Sinne Kapitalisten“.19
3 Im „halbasiatischen Märchenland“: Zu Theodore Dreisers
travelogues
Dass die US-amerikanische Sozialismus-Skepsis im bürgerlich-liberalen Lager
mit Wohlwollen beobachtet wurde, davon zeugen die Erwartungen, die etwa
seitens der Neuen Freien Presse Theodore Dreisers Russlandreise von 1927 ent-
gegengebracht wurden. Im Oktober 1928 würdigte Felix Salten das Schaffen des
US-amerikanischen Romanciers für das bürgerliche Leitorgan Wiens als „längst
schon notwendiges Gegengewicht zur zermalmenden, auflösenden Dichtung
der Russen“, als Remedium gegen die „Jahrzehnte dauernde Vergiftung der deut-
schen, der europäischen Seele durch Tolstoi und Dostojewski“.20 In seinen Wort-
meldungen über die Reise, die in der ersten Hälfte des Jahres in der Neuen Freien
15 Gleich zu Beginn wird das industrialisierte Morden in den legendären Chicagoer
Schlachthäusern thematisiert und mit Einrichtungen in Moskau verglichen; vgl. ebd.,
S. 11f.
16 Vgl. ebd., S. 212.
17 Ebd., S.
214.
18 Darüber wurden „Freunde und Leser in Rußland“ z.B.
in einem in der Übersetzung
von Hermynia Zur Mühlen veröffentlichten Offenen Brief orientiert von:
Upton Sin-
clair: Rußland und der Krieg. In: Die Weltbühne, Nr. 25/1927, S. 978f.
19 Alfred Tyrnauer:
Amerika und seine Einwanderer. Wien–Leipzig:
Braumüller 1926,
S. 28f.
20 Felix Salten: Ein großer amerikanischer Erzähler. In: NFP (7.10.1928), S. 1–4.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur