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Miszellen zum Amerika-Russland-Diskurs 107
Reaktion auf Russlands wirtschaftliche Un-Entwickeltheit: „Das Bekenntnis zu
Amerika, es war das Bekenntnis zu den Voraussetzungen der Sozialisierung,
die man in übermenschlicher Arbeit der Geschichte abtrotzen wollte.“45 Auch
Fischers ‚Typologie‘ stützt sich auf literarische Quellen, doch der ‚Kanon‘ ist ein
anderer, ein aktualisierter. Gleiches gilt für Lazar, aber auch Oskar M. Fontana,
der künstlerischen „Dokumenten“ wie zum Beispiel dem Potemkin-Film oder
Il’ja Ėrenburgs Roman Michail Lykow (1927) den Vorzug gibt vor Berichten aus
der Feder von Reisenden, die das „russische Leben“ gleich „Kriegsberichterstat-
tern“ nach wenigen Wochen beurteilen möchten.46
Ėrenburg, der auch bei Lazar als Prototyp neuer russischer Literatur genannt
wird, hat sein autopoetisches Selbstverständnis als Reporter-Literat, dem vor
allem an „Objektivität“ gelegen ist, in der Wiener Zeitschrift Radiowelt 1930
wie folgt erläutert:
„Der junge Mensch, der zwischen den Maschinen aufwächst,
kann nicht anders als in seinen schriftlichen Beobachtungen das Spiegelbild sei-
ner Umwelt getreu aufzeichnen. Die Phantasie hat an literarischer Wertschät-
zung eingebüßt“. Dieser Rapport zur Sachlichkeit wird von Ėrenburg als Facette
des Amerika-Kults der russischen Jugend skizziert: „Über Rußland geht heute
der Stern Amerikas auf“, die Technik beschlagnahme „die Gedanken der heran-
wachsenden Generation“, die „den Fußball entschieden dickleibigen Dostojew-
sky-Bänden vor[zieht]“.47
von Streiks, Wahlkämpfen und parlamentarischen Machtverschiebungen“ vollziehe.
Über „das Schicksal der kapitalistischen Welt“ werde zukünftig v.a. in den USA
entschieden; im „große[n] Weltprozeß der sozialen Revolution“ sei der Bolsche-
wismus „nur eine der vorübergehenden Formen und Phasen“ (Ders.: Weltrevolu-
tion. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1919 (= Sozialistische Bücherei, H. 11)).
Von seinem kritischen „Verhältnis zum Bolschewismus“ hat Bauer auch Zeugnis
abgelegt in: ders.: Acht Monate auswärtiger Politik. Rede, gehalten am 29. Juli 1919.
Wien:
Wiener Volksbuchhandlung Ignaz Brand & Co. 1919 (= Sozialistische Bücherei,
H. 12), bs. S. 8–10.
45 Ernst Fischer:
Wandlung des russischen Geistes. In:
Der Kampf, Nr.
11/1927, S.
499–
507.
46 Oskar M. Fontana: Das heroische und das alltägliche Rußland. In: Der Tag
(15.1.1928), S. 17.
47 Ilja Ehrenburg: Romane – nein, elektrische Kraftwerke. In: Radiowelt, H. 3/1930,
S. 75; auch in: Primus-Heinz Kucher/Rebecca Unterberger: „Akustisches Drama“.
Radioästhetik, Kultur und Radiopolitik in Österreich 1924–1934. Bielefeld:
Aisthesis
2013, S.
152f.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur