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Rebecca
Unterberger108
5 Ohne Amerika geht es nicht?
Bei Ėrenburg und Fischer erschien der neue amerika(nismus)affine russische
Tatmensch vor allem dank seines Technisierungsenthusiasmus als logische Kon-
sequenz der Revolution plausibel. Joseph Roth dagegen, für den die USA und
die Sowjetunion zentrale Pole seiner geopolitischen Orientierung um das (Epi-)
Zentrum der untergegangenen Monarchie stellten,48 war besorgt im Angesichte
eines gleichfalls ‚amerikanisiert‘ daherkommenden „neuen russischen Typ[s] “.
Vor den Schaufenstern des „Nep-Mann[es]“, Proponent der seit Beginn der
1920er allmählich durchgesetzten Neuen Ökonomischen Politik (NEP), stehe
das Proletariat heute neuerdings, ohne sich die feilgebotenen Waren leisten zu
können – wie in einem „kapitalistische[n] Staat“. Der NEP-Mann als Händler
und Industrieller ist der „auferstandene Bourgeois“,49 den Nikolaus Basseches
als Manifestation einer umfassenderen ‚Wandlung des russischen Geistes‘ skiz-
zierte: Der von den Kulturrevolutionären vermeinte „neue Mensch“ sei nichts
anderes als „ein guter Staatsbürger, der die Ordnung liebt“, und darin vergleichbar
dem „idealen Staatsbürger der bürgerlichen Staaten“. Der prototypische „neue
Mensch“ ist demnach, so auch der Titel des Leitartikels aus der Feder des Neue
Freie Presse-Moskau-Korrespondenten, „Der verbürgerlichte Kommunist“.50
Die hier feuilletonistisch geleistete ‚Verbürgerlichung‘ der Sowjetunion fand
eine Entsprechung in einem immer wieder beschworenen bürgerlichen Habitus
der USA. „Es gibt nur amerikanische Bürger“,51 begeisterte sich etwa der Wiener
Mediziner Burghard Breitner, dem mit dem sibirischen Kriegstagebuch Unver-
wundet gefangen 1921 ein Bestseller gelungen war,52 in dem USA-Reisebericht
48 Vgl. Gerhard R. Kaiser:
Altes Europa. USA-kritische Bezüge in der deutschsprachigen
nichtfiktionalen Paris-Literatur zwischen 1918 und 1933 […]. In: Walter Fähnders
u.a. (Hgg.):
Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen (= Reisen Texte
Metropolen, Bd.
1). Bielefeld:
Aisthesis 2005, S.
71–85, hier S.
77; vgl. auch den Beitrag
von E. Voloshchuk.
49 Joseph Roth: Der auferstandene Bourgeois. In: Prager Tagblatt (24.10.1926), S. 4.
50 Nikolaus Basseches:
Der verbürgerlichte Kommunist. In:
NFP (5.6.1928), S.
1f. Bass-
eches, der in Moskau geborene Sohn eines österreichischen Großhändlers, war seit
1922 für die NFP als Korrespondent tätig. Zu Beginn der 1930er Jahre setzte sich Sta-
lin persönlich für die Ausweisung des einzigen österreichischen Pressevertreters ein,
provoziert von dessen kritischer Berichterstattung über die Kolchosen; vgl. Heeke,
Reisen zu den Sowjets, S. 53f.
51 Burghard Breitner:
Mormonen und Medizinmänner. Wien:
Amalthea 1930, S.
151f.
52 1935 erschien im Verlag E. Hofmann (Darmstadt–Leipzig) eine erweiterte Ausgabe
u.d.T. Sibirien. Unverwundet gefangen, laut deren Vorsatz sich die ursprünglich im
Wiener Rikola-Verlag erschienene Ausgabe 11.000 Mal verkauft habe.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur