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Miszellen zum Amerika-Russland-Diskurs 109
Mormonen und Medizinmänner (1930) über die fehlende Durchschlagkraft des
Sozialismus in Amerika – im Gegensatz zu Wien, das von „bolschewistischen
Pocken“ befallen sei.53 Denn, wie sich hier mit Ann Tizia Leitich anknüpfen
ließe, der amerikanische Arbeiter hat es „nicht notwendig, Bolschewist zu wer-
den“. Dank der Lohnpolitik eines Henry Ford sei er nämlich zufrieden, was die
aus Wien gebürtige USA-Korrespondentin der Neuen Freien Presse 1925 mit
folgendem Bekenntnis zu Amerika quittierte: „Ich bin weder Bolschewistin
noch Sozialistin, lediglich Amerikanerin – in diesem Sinn – und als solche sage
ich: Jeder, wo immer er geboren ist, soll die Möglichkeit haben, sein Leben aus-
zugestalten“.54 Den Osten hatte Leitich, ohne Russland aus eigener Anschauung
zu kennen, auch als Romanschriftstellerin im Blick, als sie 1930 in dem in der
Neuen Freien Presse veröffentlichten „Roman einer Frau der Zeit“ Ein Leben ist
nicht genug die ‚rasende Reporterin‘ Lassa Lumis Amerika und Europa durch-
messen ließ. Der Durchbruch als Journalistin ist Lassa mit dem Reportagero-
man Als Arbeiterin durch das bolschewistische Rußland, als – in Anlehnung an
Lili Körbers Tagebuch-Roman55 – ‚Frau, die den roten Alltag bereist‘, gelungen.
Als Starreporterin beim Medienkonzern Transcontinental Press mit Hauptsitz
in New York ist sie dann zunächst in Paris als Korrespondentin, dann in Ber-
lin als Leiterin der Propagandaabteilung der Bequi, einer Tochtergesellschaft
der Transcontinental, tätig. Das Luftfahrtunternehmen interessiert sich für
einen von deutschen Wissenschaftlern entwickelten Flugzeug-Treibstoff; als die
Hauptfinanciers dieser Forschungen, die deutschen Sonner-Werke, marodieren
und sich nur durch einen Vertrag mit der Sowjethandelsvertretung in Berlin
sanieren könnten, wird Lassa beauftragt, den Vertragsabschluss zu verhindern.
Doch sie scheitert ganz bewusst: Die Sonner-Werke werden 42.000 Traktoren
nach Russland liefern, und Lassa scheidet aus der Bequi aus. Was für eine ‚Kar-
rieristin der Zeit‘ die Katastrophe bedeuten müsste, gerät für eine Leitich-Pro-
tagonistin zum Happy End, in dem Amerika und Europa, das heißt Lassa und
der für Sonner tätige Ingenieur Montanus, endlich zueinander finden.56 Dieses
Happy End transportiert für das ‚bürgerliche‘ Lager in den 1920er Jahren durch-
aus typische philo-amerikanistische Sentiments, als deren Sprachrohr Leitich
auch mit ihren journalistischen Beiträgen figurierte. Von einer nach amerikani-
schem Vorbild modernisierten Gesellschaft versprach man sich die ‚Bändigung‘
der Massen durch demokratische Zugeständnisse und damit einen Weg vorbei
53 Breitner, Mormonen, S. 143.
54 Ann Tizia Leitich: Ein Wort für Amerika. In: NFP (25.3.1925), S. 1–4.
55 Vgl. dazu den Beitrag von W. Fähnders.
56 Der Roman erschien zwischen 23.8. und 30.10.1930 in der NFP.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur