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Lili Körbers Eine Frau erlebt den roten Alltag 125
der Anspruch einer erzählerischen Melange des Faktualen und Fiktionalen wie-
derholt; dabei scheint das Werk über jeden Verdacht erhaben, etwas Anderes als
das wirklich „Erlebte“ zu präsentieren.
4 Innensicht und Authentizität
Die offene Erzählform eines zwei Monate lang geführten Tagebuchs mit fast täg-
lichen, insgesamt knapp 60 Einträgen gestattet ein Panorama von Informatio-
nen, Meinungen und Erlebnissen. Diese Innensicht19 der Protagonistin an ihrem
Arbeitsplatz im „Roten Putilowez“, wo sie als „Praktikantin“ [RA 38] einer eher
wenig qualifizierten, durchaus anstrengenden Arbeit am Schraubstock nachgeht,
markiert das Außergewöhnliche dieses Buchs als einem Produkt teilnehmen-
der Beobachtung. Vergleichbares schufen zu dieser Zeit auch die sozialistische
Schriftstellerin Maria Leitner, die sich für ihre Reportagen über Amerika als
Hotelmädchen verdingte, oder auch der russische Avantgardist Sergej Tret’âkov
mit seiner Wiedergabe von authentischen Materialien, der sogenannten Fakto-
graphie. Die wachsende Skepsis an dokumentarischen Verfahren in den Litera-
turdebatten seit Ende der zwanziger Jahre artikulierte sich beispielhaft in Bert
Brechts Diktum: „Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt bei-
nahe nichts über diese Institute.“20 Diese Skepsis beförderte neue Weisen des
Schreibens, sei es im Konstrukt eines Tagebuch-Romans oder, wie bei Tret’âkov,
im Bio-Interview.
Berichtet wird in stets positiver Grundeinstellung und Wertung über den
betrieblichen „Alltag“. Strukturen der Produktion im Rahmen des ersten Fünf-
jahresplanes, den die Putilow-Werke tatsächlich in drei Jahren und sieben
Monaten erfüllen, sind ebenso Gegenstand wie das politische Leben im Betrieb.
Thematisiert werden Betriebsversammlungen, etwa eine Aussprache über die
aktuelle Rede Stalins zur Umstellung von der fünf- auf die sechstägige Arbeits-
woche oder das innerbetriebliche Gericht über eine säumige Kollegin. Als die
Protagonistin erkrankt, sucht sie die Betriebsklinik auf, was Anlass ist, sich
und die Leser unter anderem über die seinerzeit auch in Deutschland heftig
diskutierte Abtreibungsproblematik zu informieren. Es geht zudem um Frei-
zeitgestaltung, Besuche bei Kolleginnen, bei der „Roten Studentenschaft“, um
19 Gabriele Kreis spricht von einem „teilnehmenden ‚Ausblick von innen‘ “ (Gabriele
Kreis: Vorwort, zu: Körber, Die Ehe der Ruth Gompertz, S. 5–13, zit. S. 7f.).
20 Vgl. Walter Fähnders: „Linkskunst“ oder „reaktionäre Angelegenheit“? Zur Tatsa-
chenpoetik der Neuen Sachlichkeit. In: Primus-Heinz Kucher (Hg.): Literatur und
Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre. Bielefeld:
Aisthesis 2007, S. 83–102.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur