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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Seite - 125 -
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Lili Körbers Eine Frau erlebt den roten Alltag 125 der Anspruch einer erzählerischen Melange des Faktualen und Fiktionalen wie- derholt; dabei scheint das Werk über jeden Verdacht erhaben, etwas Anderes als das wirklich „Erlebte“ zu präsentieren. 4 Innensicht und Authentizität Die offene Erzählform eines zwei Monate lang geführten Tagebuchs mit fast täg- lichen, insgesamt knapp 60 Einträgen gestattet ein Panorama von Informatio- nen, Meinungen und Erlebnissen. Diese Innensicht19 der Protagonistin an ihrem Arbeitsplatz im „Roten Putilowez“, wo sie als „Praktikantin“ [RA  38] einer eher wenig qualifizierten, durchaus anstrengenden Arbeit am Schraubstock nachgeht, markiert das Außergewöhnliche dieses Buchs als einem Produkt teilnehmen- der Beobachtung. Vergleichbares schufen zu dieser Zeit auch die sozialistische Schriftstellerin Maria Leitner, die sich für ihre Reportagen über Amerika als Hotelmädchen verdingte, oder auch der russische Avantgardist Sergej Tret’âkov mit seiner Wiedergabe von authentischen Materialien, der sogenannten Fakto- graphie. Die wachsende Skepsis an dokumentarischen Verfahren in den Litera- turdebatten seit Ende der zwanziger Jahre artikulierte sich beispielhaft in Bert Brechts Diktum:  „Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt bei- nahe nichts über diese Institute.“20 Diese Skepsis beförderte neue Weisen des Schreibens, sei es im Konstrukt eines Tagebuch-Romans oder, wie bei Tret’âkov, im Bio-Interview. Berichtet wird in stets positiver Grundeinstellung und Wertung über den betrieblichen „Alltag“. Strukturen der Produktion im Rahmen des ersten Fünf- jahresplanes, den die Putilow-Werke tatsächlich in drei Jahren und sieben Monaten erfüllen, sind ebenso Gegenstand wie das politische Leben im Betrieb. Thematisiert werden Betriebsversammlungen, etwa eine Aussprache über die aktuelle Rede Stalins zur Umstellung von der fünf- auf die sechstägige Arbeits- woche oder das innerbetriebliche Gericht über eine säumige Kollegin. Als die Protagonistin erkrankt, sucht sie die Betriebsklinik auf, was Anlass ist, sich und die Leser unter anderem über die seinerzeit auch in Deutschland heftig diskutierte Abtreibungsproblematik zu informieren. Es geht zudem um Frei- zeitgestaltung, Besuche bei Kolleginnen, bei der „Roten Studentenschaft“, um 19 Gabriele Kreis spricht von einem „teilnehmenden ‚Ausblick von innen‘ “ (Gabriele Kreis:  Vorwort, zu:  Körber, Die Ehe der Ruth Gompertz, S.  5–13, zit. S.  7f.). 20 Vgl. Walter Fähnders:  „Linkskunst“ oder „reaktionäre Angelegenheit“? Zur Tatsa- chenpoetik der Neuen Sachlichkeit. In:  Primus-Heinz Kucher (Hg.):  Literatur und Kultur im Österreich der Zwanziger Jahre. Bielefeld:  Aisthesis 2007, S.  83–102.
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Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Titel
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Untertitel
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
Autor
Primus-Heinz Kucher
Herausgeber
Rebecca Unterberger
Datum
2019
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY 4.0
ISBN
978-3-631-78199-9
Abmessungen
14.8 x 21.0 cm
Seiten
466
Kategorie
Kunst und Kultur
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