Page - 151 - in Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹ - Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
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Deutungsmuster in Fülöp-Millers Reportage von 1926 151
vorläufigen Höhepunkt bereits im Jahre 1924, dem Todesjahr Lenins, gefunden.5
Fülöp-Miller stand folglich vor der Herausforderung, dem deutschsprachigen
Europa – vorrangiges Absatzgebiet seines Werks – ein im Verhältnis zu den
bestehenden Russlandberichten innovatives Deutungsangebot zu machen, da
er mit der Veröffentlichung von Geist und Gesicht nicht zuletzt auch finanzielle
Interessen verfolgte.
Nachfolgend soll die unleugbare Durchschlagkraft von Fülöp-Millers Opus
Magnum zudem in Zusammenschau mit der Theorie der „Entgegenkommenden
Strömung“ des russischen Literaturtheoretikers Aleksandr Veselovskij (1838–
1906) perspektiviert werden. Veselovskij stellte bereits Mitte des 19. Jahrhun-
derts fest: „Der Einfluss eines fremden Elements ist immer durch seine innere
Affinität zu der Ebene bedingt, [auf] die es [wirkt]“.6 Fülöp-Miller ist mit sei-
nen Schilderungen über Facetten der sowjetischen Ideologie, von sowjetischen
Kunst- und Kulturtendenzen eindeutig auf eine solche „Affinität“ gestoßen, das
heißt auf ein Informationsbedürfnis in der Ersten Republik und in der Weimarer
Republik.7 Die in Anlehnung an die Überlegungen Veselovskijs erstmals in den
1980er Jahren von den Germanisten Michel Espagne und Michael Werner for-
mulierte Kulturtransfertheorie8 geht noch einen Schritt weiter, indem sie nach
5 Vgl. Gerd Koenen: Blick nach Osten. Eine Gesamt-Bibliographie der deutschspra-
chigen Literatur über Rußland und den Bolschewismus 1917–1924. In: ders. u.a.
(Hgg.):
Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924. München:
Fink 1998
(= West-östliche Spiegelungen, Reihe A: Russen und Rußland aus deutscher Sicht,
Bd. 5), S. 827–934.
6 Sergej P. Taškenov: Aleksandr Nikolaevič Veselovskij. Diskursbegründer der Histo-
rischen Poetik. In: Dirk Kemper u.a. (Hgg.): Die russische Schule der historischen
Poetik. München: Fink 2013, S. 43–58, zit. S. 52. Das Originalzitat lautet: „Влияние
чуждого элемента всегда обусловливается его внутренним согласием с уровнем
той среды, на которую ему приходится действовать“, s. Žurnal ministerstva
narodnogo prosveščenija. Čast’ CXX, Dekabr. 1863, Abt. II. S.
557–558 (zit. bei:
S. I.
Suchich:
Istoričeskaja poetika A.N. Veselovskogo. Iz lekzij po istorii russkogo litera-
turovedenija. Nižnij Novgorod: KiTizdat 2001, zit. S. 40).
7 Vgl. hierzu auch den Beitrag Jürgen Dolls in diesem Band, der ausführlich auf die große
Bedeutung von Geist und Gesicht als Textvorlage für die praktischen Theaterkonzeptio-
nen sozialdemokratischer Gruppen im Wien der Zwischenkriegszeit eingeht.
8 Vgl. Michel Espagne/Michael Werner: Deutsch-französischer Kulturtransfer im
18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm
des C.N.R.S. In: Francia, H. 13/1985, S. 502–510; Matthias Middell: Kulturtransfer,
Transferts culturels. In:
Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten
der zeithistorischen Forschung, 28.01.2016. Online unter: https://docupedia.de/zg/
Kulturtransfer#artikel_inhalt_zitation (letzter Zugriff: 22.11.2016).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur