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Deutungsmuster in Fülöp-Millers Reportage von 1926 153
Sowjetunion, in der gleichzeitig die 1921 initiierte Neue Ökonomische Politik zu
einer Stabilisierung des Landes führen sollte.12 In Folge der Hungersnot waren es
vor allem Hilfsorganisationen, die durch die Versorgung der betroffenen Gebiete
erste Kontakte zwischen der UdSSR und dem Ausland herstellten und damit die
späteren institutionellen Strukturen der Gesellschaft für die kulturelle Verbin-
dung der UdSSR mit dem Ausland (Vsesojusnoe obščestvo kul’turnoj svjazi s
zagranizej, kurz: VOKS) vorbereiteten.13 1925, im Jahr deren Gründung, hatte
Fülöp-Miller die Sowjetunion jedoch bereits zweifach bereist, weshalb anzu-
nehmen ist, dass er sich noch ohne fest ausgebildete Überwachungsstrukturen
vor Ort verhältnismäßig frei bewegen hatte können. Laut Gerd Koenen konnte
die Gruppe früher Reisender grundsätzlich sogar in Kontakt zu Mitgliedern der
sowjetischen Führung treten:
„Einmal in Moskau, bewegte man sich erstaunlich
leicht und ungezwungen im inneren Zirkel dieser jungen Macht, die noch ganz
improvisiert und unzeremoniell wirkte und viele Züge eines etwas bohèmehaf-
ten Feldlagers trug.“14 Es ist nicht belegt, ob oder mit welchen Persönlichkeiten
der politischen Führung Fülöp-Miller tatsächlich Kontakt gehabt hat, auch wenn
solche Kontakte durch originäre Aussagen von Lenin und Trockij in Geist und
Gesicht zum Teil suggeriert werden.15 Mit mehreren zentralen Kulturakteuren
jedoch stand er vor Ort nachweislich in Austausch, wovon unter anderem eine
Korrespondenz mit dem in Westeuropa bereits populären Theaterregisseur Vse-
volod Mejerchol’d zeugt.16
12 Vgl. Matthias Heeke:
Reisen zu den Sowjets. Der ausländische Tourismus in Russland
1921–1941. Münster: Lit Verlag 2003, bs. S. 15–17; Dietmar Neutatz: Träume und
Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert. München: Beck 2013,
S. 170–193.
13 Vgl. Julia Köstenberger: Österreichisch-sowjetische Kulturkontakte im Überblick.
In:
Verena Moritz u.a. (Hgg.):
Gegenwelten. Aspekte der österreichisch-sowjetischen
Beziehungen 1918–1938. St. Pölten:
Residenz 2013, S.
231–249, hier S.
232; Matthias
Heeke: Reisen nach Moskau: Organisierte Trampelpfade der Fremdwahrnehmung?
In:
Walter Fähnders u.a. (Hgg.):
Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metro-
polen. Bielefeld:
Aisthesis 2005 (= Reisen Texte Metropolen, Bd.
1), S.
169–190, hier
S. 170f.
14 Gerd Koenen: „Indien im Nebel“. Die ersten Reisenden ins „neue Rußland“. Neun
Modelle projektiver Wahrnehmung. In: ders. (Hg.): Deutschland und die Russische
Revolution. München:
Wilhelm Fink 1998, S.
557–615, zit. S.
558.
15 Etwa durch Aussagen wie:
„Hörte man Lenin sprechen, so vernahm man Worte, […]
die […] vielleicht sogar banal gewesen wären, hätte nicht eben er sie angewendet.“
[GG 37]
16 Fülöp-Miller traf Vsevolod Mejerchol’d offenbar mehrmals in Moskau und blieb auch
nach seiner Rückkehr nach Wien mit ihm in Kontakt, u.a. um eine Theatertournee
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur