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Katja
Plachov158
seitens der Leserinnen und Leser.27 Die Einleitung zu Geist und Gesicht offenbart
somit zum einen das Selbstverständnis Fülöp-Millers als Verfasser und spie-
gelt zum anderen die Erwartungshaltungen des Lesepublikums wider, die für
Autoren von Texten mit Bezug zur Sowjetunion wohl zu berücksichtigen waren;
„schließlich ist auch der Konkurrenzdruck innerhalb der Reportageliteratur
nicht zu unterschätzen, beanspruchte doch jeder der vielen Russlandreisenden,
die Wahrheit gesehen und beschrieben zu haben.“28
Im Gegensatz zu anderen Russlandreiseberichten, etwa zu Alfons Paquets Im
kommunistischen Rußland (1919) oder Arthur Holitschers Drei Monate in Sowjet-
Rußland (1921), wählt Fülöp-Miller weder in der Einleitung noch im Haupttext
die Ich-Perspektive für seine Darstellungen und verzichtet auf direkte Adressie-
rungen seiner Leser. Durch die Vermeidung eines „autoptischen“ Erzählprin-
zips, bei dem die Verfasser formelhaft ihre Augenzeugenschaft beteuern (‚Ich
habe es gesehen und erlebt‘) und damit die Leser in den Stand zweiter Augen-
zeugen erheben,29 grenzt sich Fülöp-Miller formal von vielen zeitgenössischen
Reiseberichterstattern ab. Der Text scheint eher einen wissenschaftlich-komple-
xen Stil imitieren zu wollen und enthält gleichzeitig auch viele Redundanzen
sowie stark wertende Passagen.
Fülöp-Miller nutzt die einleitenden Bemerkungen zudem, um auf die Foto-
grafie als konstitutivem Bestandteil der Publikation hinzuweisen, die mit „unbe-
irrbare[r] Verläßlichkeit […] als dokumentarische Unterlage für das Gesagte“
diene.30 Viele Momente, die fotografisch festgehalten worden seien, kehren
nie mehr wieder und seien daher als „kostbare historische Dokumente“ zu
betrachten.31 Fülöp-Miller verleiht den Abbildungen damit eine dokumenta-
rische sowie den Wahrheitsgehalt des Gesagten legitimierende Funktion und
reklamiert dadurch für sein Werk eine nachhaltige historische Qualität. In der
bereits erwähnten Studie über deutschsprachige Reportagen zu Sowjetrussland
hat Bernhard Furler bereits den „Glaube[n] an die alles überzeugende Beweis-
kraft des Bildes“,32 an den auch Fülöp-Miller in seiner Einleitung appelliert, in
27 Bernhard Furler: Augen-Schein. Deutschsprachige Reportagen über Sowjetrußland
1917–1939. Frankfurt a.M.: Athenäum 1987, S. 18.
28 Ebd., S.
33 und 36. Hier wird Bezug genommen auf die Vorworte in:
Alfons Paquets
Im kommunistischen Russland (1919) und Arthur Holitschers Drei Monate in Sowjet-
Russland (1921).
29 Vgl. ebd., S. 30.
30 Fülöp-Miller, Geist und Gesicht, S. II.
31 Ebd.
32 Furler, Augen-Schein, S. 63.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur