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Kurt
Ifkovits186
Was sich in Europa allmählich entwickelt habe, sei in Russland von außen ein-
geführt worden. In der Folge werde die Spannung von Kosmopolitismus versus
Autochthonie, gleichzeitige Anziehung und „Reperkussion des Auslandes“ ein
„charakteristisch russische[r] Gedanke“ [RT 16] der russischen Kultur. So lasse
sich die Geschichte des russischen Theaters auch als ein Kampf um Autochtho-
nie verstehen. Die explosionsartige Ausbreitung des russischen Theaters gegen
Ende des 19. Jahrhunderts erklärt Gregor beispielsweise aus der Befreiung von
den „westlichen Formen und Fesseln“ [RT 18]. Ungeheures, genuin russisches
Inhalts- und Formenmaterial habe sich angesammelt, doch es gäbe keinen Ort,
an dem es sich entfalten könne. Dieses genuin russische Formenmaterial leitet
Gregor nun aus der Ikonen- und Buchmalerei ab, die er folgendermaßen kenn-
zeichnet: begrenzte Motivik, Prägnanz, Eindeutigkeit, Fehlen von Natur, räum-
licher Symbolismus. In der Miniaturistik erkennt Gregor einen „theatralischen
Formengeist“, der sich durch äußerste Abstraktion, Gestik der Gestalten und eine
Farbsymbolik auszeichne. Hierin liegen die Wurzeln der spezifischen Gestal-
tungsgabe des modernen russischen Theaters. Symbol werde neben Symbol
gesetzt; nicht das malerische Ergebnis, sondern die Ausdruckskraft des Ergeb-
nisses sei primär. Die Komposition sei „nicht bildlich, sondern räumlich“. Das
„Symbol“ „überwiegt“ das Dargestellte. Gregor spricht daher von einer „Mystik
des Dargestellten“ [RT 20f.].
Den Beginn der russischen Theatermoderne datiert Gregor mit der Person
Konstantin Stanislavskijs. Diesem gelinge es erstmals, das gesamte theatrale
Spiel grafisch auf kleinstem Raum zu entfalten, um es schließlich auf die Bühne
zu bringen. Dem Verfahren der Miniaturisten nicht unähnlich, eröffne sich aus
einer kleinen Skizze eine ungeheure Vision:
Das Regiebuch als „Partitur der Auf-
führung“. Stanislavskijs Theater, das aus dem Russischen hinausstrebt,33 sei im
Westen als Naturalismus missverstanden worden. So viel Theaterwille, so viel
Hingabe wurde für Natur gehalten. Tatsächlich sei sein Theater ein harmoni-
sches Ganzes für Ohr und Auge, das, den Arbeiten Otto Brahms und Max Rein-
hardts ähnlich, realen Gegenständen auf der Bühne eine Bedeutung verleihe, die
weit über sie hinausgeht – kurzum: angewandter Symbolismus [vgl. RT 31–33].
33 Stanislavskijs Hinausstreben aus dem Russischen wurde von Gregor anlässlich dessen
70. Geburtstags zum zentralen Gedanken seines Würdigungsbeitrags, in dem, durch-
aus mit pejorativem Beigeschmack, zu lesen ist, Stanislavskij „war niemals Russe“,
„verkappter Ausländer“, „Westler“ und stehe „ganz außerhalb seiner Zeit, dies seine
Größe, allerdings auch sein Verhängnis“ (Joseph Gregor: Constantin Stanislawsky.
In: Die Bühne, H. 360/1933, S. 12–15).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur