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Gastspiele sowjetischer Theatertruppen in Wien 203
Vogel nur bei Stanislavskij13 uraufgeführt wissen wollte. Aufgeschlossen, wie
er war, ließ sich Stanislavskij auch auf ein interessantes Experiment des öster-
reichischen Schauspielers Alexander Moissi ein, der für seinen eigenwilligen
Sprechstil geradezu berüchtigt war. Der als extravagant geltende Schauspielstar
Moissi wollte, seines Startums wohl überdrüssig, unbedingt bei ihm auftreten,
um in dem von Stanislavskij so hoch gehaltenen Gemeinschaftsspiel aufzugehen.
Jedenfalls begrüßte Stanislavskij dieses Experiment, und Moissi verkörperte
1925 viele Wochen lang am Künstlertheater in Moskau den König Ödipus, den
Hamlet sowie Gestalten aus der russischen Literatur. Unter Stanislavskijs Regie
spielte er zudem mit dem Habima-Ensemble, ein weiteres Studio des Künstler-
theaters, in Jaákobs Traum von Richard Beer-Hofmann mit. „Er hat seine Rollen
sämtlich in deutscher Sprache gespielt, während alle übrigen Mitwirkenden rus-
sisch sprachen“,14 wusste der Wiener Theaterkritiker Hans Böhm von dieser so
harmonischen, obgleich gemischtsprachlichen Zusammenarbeit zu berichten.
Es nimmt daher nicht wunder, wenn dem Gastspiel der Mitglieder des Mos-
kauer Künstlertheaters im April 1921 im Wiener Stadttheater größte Beachtung
beigemessen wurde. Die Ursachen für Stanislavskijs Abwesenheit waren, wie schon
erwähnt, politischer Natur. Der Schriftsteller Robert Musil, damals für die Prager
Presse als Theaterkritiker tätig, wusste um die genauen Hintergründe:
Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko, die geistigen Beweger dieser Künstlerschar,
hat der russische Umsturz in Moskau zurückgehalten, während er einen Teil der Darsteller
und Regisseure, der in Denikins Hände gefallen war, in die Freiheit des Westens vertrieb
oder entließ …15
Zum Auftakt spielte man Maksim Gor’kijs Nachtasyl (11., 14. April), dann wur-
den hintereinander mehrere Stücke Čechovs wie Onkel Wanja (12. April), Die
drei Schwestern (13., 16. April) sowie Der Kirschgarten (15., 25. April) aufgeführt.
Es folgten die dramatisierten Fragmente I und II aus dem Roman Die Brüder
Karamazov von Fёdor Dostoevskij16 (18., 23., 24. April), die jeweils an zwei
13 Bereits 1904 hatte Stanislavskij drei Einakter von Maeterlinck aufgeführt. Zu seiner
persönlichen Begegnung mit Maeterlinck vgl. das Kapitel „Zu Gast bei Maeterlinck“
in: Stanislawski, Mein Leben, S. 391–394.
14 Hans Böhm: Moissi in Rußland. In: Die Bühne, H. 14/1925, S. 2.
15 Robert Musil: Moskauer Künstlertheater [24. April 1921]. In: ders., Gesammelte
Werke, Bd. 9, S. 1476. Anton I. Denikin war ein wichtiger Kommandeur der Wei-
ßen Armee.
16 Zum besseren Verständnis ihres Publikums gaben die Direktoren des Wiener Stadt-
theaters, Josef Jarno und Wilhelm Karczag, eine 15-seitige Broschüre mit der Inhalts-
angabe der Geschehnisse vor den dramatisierten Szenen heraus: „Diese Einleitung
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur