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Barbara
Lesák206
2.2 Die Tourneen der russischen Kleinkunstbühnen: Der Blaue
Vogel und die „Grauen Vögel“ auf ihrem Halt in Wien21
Das russische Kabarett kam schon aus sprachlichen Gründen gänzlich ohne
politische Anspielungen aus; es schwelgte nostalgisch in folkloristischen Sze-
nen über das „Väterchen Russland“, aber es griff auch einige populäre sowie
mondäne Themen aus der neuen Welt, in die es nun exiliert war, auf. Was
den russischen Kleinkunstbühnen letztlich den großen Erfolg beschert hat, ist
schwer präzise zu bestimmen; vermutlich wird die farbenfrohe, ansprechende
Verpackung eher harmlos-traditionalistischer Inhalte dazu beigetragen haben.
Die russischen Szenen- und Kostümgestalterinnen und -gestalter der Klein-
kunstbühnen gehörten mehr oder weniger der zweiten oder dritten Garnitur
von Künstlern an, die aber immer noch auf hohem Niveau das innovative
künstlerische Potential der russischen Kunstszene des ersten Viertels des
20.
Jahrhunderts repräsentierten. Sie gestalteten die Szenen nach den neuesten,
bereits im vorrevolutionären Russland entstandenen Stilrichtungen – Kubofu-
turismus, Primitivismus, Suprematismus und Rayonismus
–, die eigenständige
beziehungsweise weiterführende russische Spielarten von westeuropäischen
Kunstströmungen wie Expressionismus, Futurismus oder Kubismus waren.
Das Credo der Abstraktion wurde von ihnen bewusst ins Dekorative gewendet,
mitunter auch ins Gefällige, wodurch das verstörend Neue der Gegenstandslo-
sigkeit geglättet, verflacht, aber auch kommensurabel wurde. Im Sog der Gast-
spiele dieser russischen Gäste der heiteren Muse konnte der neue Kunststil aus
Russland auch einem kunstfernen Publikum nahegebracht, gleichsam popula-
risiert werden. Zudem war die musikalische Untermalung der Kurzszenen, in
denen häufig gesungen wurde, äußerst niveauvoll: Von anonymer Volksmu-
sik über Michail Glinka bis zu Modest Mussorgsky reichte der weit gespannte
musikalische Bogen.
Jascha Južnyjs noch in Moskau 1917 gegründete Kabarettbühne Der Blaue
Vogel, mit der er nach Berlin emigrierte und die er 1921 in einem kleinen
21 Alfred Polgar schenkte den russischen Kleinkunstbühnen viel Aufmerksamkeit. Er
konstatierte zwei Kategorien von russischen Kabaretts: den „Blauen Vogel“ – das
Original –, dessen Kabarett-Kunst vollendet sei, sowie eine ganze Fülle von, wie er
es nannte, „Grauen Vögeln“, die den „Blauen Vogel“ nur nachahmen, ihn jedoch nie
übertreffen könnten (vgl. Alfred Polgar: Der blaue und die grauen Vögel. In: Die
Weltbühne, H. 35/1923, S. 217–220, zit. bei:
Molnári, Das russische Theater, S. 55).
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur