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Jürgen
Doll222
Das sowjetrussische Theater fand über die Parteijugend und die Parteilinke
Eingang in die österreichische Sozialdemokratie, und es ist signifikant, dass die
ersten diesbezüglichen Hinweise in der von Ludwig Wagner redigierten Zeit-
schrift der sozialistischen Mittelschüler Der Schulkampf erschienen. Die spä-
tere theoretische Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Theater fand dann
vornehmlich in der Politischen Bühne statt, der Zeitschrift der Sozialistischen
Veranstaltungsgruppe, die unter anderem das Politische Kabarett gründete und
später die Roten-Spieler-Gruppen organisierte.4 In einem Interview aus dem
Jahre 1977 betonte Robert Ehrenzweig, Herausgeber und leitender Redakteur
der Politischen Bühne, wie sehr die kulturelle Entwicklung der jungen Sowjet-
union das Interesse der sozialistischen Jugend auf sich gezogen und großen Ein-
fluss ausgeübt habe. Begierig habe man den Proletkult, der die Masse und das
Kollektiv als Helden entdeckt hatte, zur Kenntnis genommen. Vor allem Platon
M. Keržencevs Buch Das schöpferische Theater5 und Fülöp-Millers Geist und
Gesicht des Bolschewismus6 hätten zum ersten Mal über die Massenspiele und
das neue russische Theater informiert und zu eigenen Aktivitäten angespornt.7
Keržencevs 1922 auf Deutsch erschienenes Werk, das auch auf das deutsche
Arbeitertheater einen nachhaltigen Einfluss ausübte,8 bestimmte in Österreich
fast ausschließlich die theoretische Reflexion der Theaterpraktiker. Dagegen
wurde etwa Aleksandr Bogdanov, der in der deutschen Proletkult – Debatte
noch eine wichtige Rolle gespielt hatte, nie erwähnt.9 Fülöp-Millers Buch, das
1926 erschienen war, erweiterte vor allem die Kenntnis des russischen Thea-
ters, fügte aber, da es sich vornehmlich mit den großen Bühnen beschäftigte,
wenig zur theoretischen Reflexion über das Agitationstheater bei. Die detaillier-
ten Beschreibungen der Inszenierungen und Massenveranstaltungen und vor
4 Vgl. Jürgen Doll:
Sozialdemokratisches Theater im Wien der Zwischenkriegszeit. Vom
Sprechchorwerk zu den Roten-Spieler-Szenen. In:
Primus-Heinz Kucher (Hg.):
Ver-
drängte Moderne – vergessene Avantgarde. Diskurskonstellationen zwischen Lite-
ratur, Theater, Kunst und Musik in Österreich 1918–1938. Göttingen:
V&R unipress
2016, S.
79–94.
5 Platon M. Kerschenzew: Das schöpferische Theater. Hamburg: Carl Hosym 1922
[Reprint: Köln: Maternus 1992].
6 René Fülöp-Miller:
Geist und Gesicht des Bolschewismus. Darstellung und Kritik des
kulturellen Lebens in Sowjet-Rußland. Zürich–Wien–Leipzig:
Amalthea-Verlag 1928.
7 Vgl. Alfred Pfoser:
Literatur und Austromarxismus. Wien:
Löcker Verlag 1980, S.
65.
8 Vgl. Ludwig Hoffmann/Daniel Hoffmann-Ostwald (Hgg.):
Deutsches Arbeitertheater
1918–1933. Eine Dokumentation. Bd. 1. Berlin: Henschel Verlag 1961, S. 33.
9 Aleksandr Bogdanovs Abhandlung Die Kunst und das Proletariat erschien 1921 in
deutscher Übersetzung.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur