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Zur Rezeption des sowjetrussischen Theaters 223
allem die sehr zahlreichen Illustrationen konnten jedoch für die Theaterpraxis
der jungen Sozialdemokraten fruchtbar gemacht werden. Ernst Fischer lobte
das Buch trotz dessen zuweilen polemischer Ausrichtung, weil es die geistige
Wandlung sichtbar mache, die sich in Russland vollziehe;10 Maria Gutmann, die
bedeutende sozialdemokratische Schauspielerin, Regisseurin und Theaterleite-
rin, schätzte als Praktikerin vor allem die Illustrationen,11 ebenso wie übrigens
Bert Brecht, der empfahl, den Text mit einer Schere herauszuschneiden und das
ausgezeichnete Bildmaterial zu behalten.12
Keržencevs Programmatik des proletarischen Theaters umfasst prinzipielle
Überlegungen und daraus resultierende neue Theatertechniken. Für Keržencev
impliziert die Entwicklung des proletarischen Theaters die Kritik, ja die Ver-
nichtung des bürgerlichen Theaters, das zu einem Vergnügen einer kleinen pri-
vilegierten Schicht verkommen sei. Das proletarische Theater hingegen sei ein
Kampfmittel der Arbeiterklasse, sein Thema das Schicksal der Massen und des
Kollektivs anstelle des Individualschicksals. Die Schauspieler sind Arbeiter, die
an ihrer Drehbank bleiben; Ziel ist die Heranbildung proletarischer Schauspie-
ler. Bühne und Publikum sollen vereinigt, die Zuschauer sozusagen zu Mitspie-
lern werden. Deshalb müsse die Rampe abgeschafft, nicht im Saal, sondern in
Betrieben, in Kasernen, in Arbeitersiedlungen, auf der Straße, wenn möglich im
Stegreif gespielt werden. Durch kleine Wandertruppen, die etwa grelle Satiren
aufführen, soll das Theater zu den Landarbeitern und Bauern gebracht werden.
Die Truppe soll kameradschaftlich organisiert sein, jedes Mitglied alle Aufga-
ben übernehmen, jede Schauspielereitelkeit vermieden werden. Als Themen
des neuen Theaters benennt Keržencev insbesondere wirkungsvolle Episoden
aus der Geschichte der Klassenkämpfe. Formal sollen Kontraste dominieren,
der Gegner verspottet und der Triumph der Arbeiterklasse in symbolisch-alle-
gorischen Formen dargestellt werden.13 Auf den Kontrast von Verhöhnung des
bürgerlichen Gegners und Glorifizierung des Arbeiters sowie auf die Gegen-
überstellung von Vergangenheit und Gegenwart in Form drastischer Bilder in
10 Vgl. Ernst Fischer:
Wandlungen des russischen Geistes. In:
Der Kampf, Nr.
11/1927,
S. 499–507: In diesem Artikel verweist Fischer auf das Ende des Proletkults und die
neue Rolle der Blaue Blusen-Truppen als Alphabetisierungstruppen.
11 Vgl. Maria Gutmann: Studiobühne – Junge Bühne. In: Kunst und Volk, Nr. 1/1930,
S. 17–20.
12 Vgl. Bertolt Brecht:
Die besten Bücher des Jahres 1926. In:
ders.:
Gesammelte Werke.
Bd. 18. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 51.
13 Vgl. Kerschenzew, Das schöpferische Theater, S. 68.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur