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Jürgen
Doll224
den von ihm beschriebenen Massenveranstaltungen weist auch Fülöp-Miller
wiederholt hin.14
Da nicht nur die ideologischen Voraussetzungen, sondern vor allem auch die
historische Situation sehr unterschiedlich waren, musste das Agitationstheater
in Österreich an die lokalen Verhältnisse angepasst werden. In Anlehnung an
Keržencev sahen die jungen Sozialisten im bürgerlichen Theater das Vergnügen
einer kleinen privilegierten Minderheit,15 folgten ihm aber nicht in dessen radi-
kaler Verurteilung. Sie beschränkten ihre Kritik auf eindeutig reaktionäre Inhalte
und, im Sinne der sozialdemokratischen Bildungsarbeit, auf die Vergnügungs-
industrie, insbesondere bürgerliche Revuen, Operetten und Militärschwänke.16
Die Mitglieder der Veranstaltungsgruppe übernahmen Keržencevs Definition
des proletarischen Theaters als Kampfmittel der Arbeiterklasse,17 deuteten sie
aber um in ein Mittel der Parteipropaganda und wandten sich so von dem Auto-
nomieanspruch des Proletkults ab. „Wir dienen nicht der Kunst, sondern der
Propaganda“,18 schreibt Jura Soyfer, und die Mitglieder des Politischen Kaba-
retts – Mittelschüler, Studenten, junge Intellektuelle und Künstler – betrachten
ihr Spiel explizit als „Parteiarbeit“.19 Dementsprechend wurde die Sozialistische
Veranstaltungsgruppe 1932 in die neu gegründete Propagandastelle eingeglie-
dert.
14 Vgl. Fülöp-Miller: Geist und Gesicht, S.
158, 187, 194–196, 255 bzw. Ill. 116, 117.
15 Vgl. Ernst Fischer: Sprechchor und Drama. In: Arbeiterwille (18.11.1925), S. 5f.;
Robert Ehrenzweig: … die die Welt bedeuten. In: Die Politische Bühne, H. 1/1932,
S. 3–5.
16 Vgl. Neon [d.i. Robert Ehrenzweig]: Agitationstheater. In: Sozialistische Veranstal-
tungsgruppe (Hg.):
Das Politische Kabarett. Wien 1929, S.
2f.; ders.:
Revue. In:
Kunst
und Volk, Nr. 6/1929, S. 153–155; Robert Ehrenzweig: … die die Welt bedeuten.
In: Die Politische Bühne, H. 1/1932, S. 3–5; Jura Soyfer: Politisches Theater. In: Die
Politische Bühne, Anfang März 1932, o.S.; ders., Die Tendenzbühne und ihr Publi-
kum. In: Die Politische Bühne, Dezember 1932, S. 70–73.
17 Vgl. Ernst Fischer:
Wandlungen des russischen Geistes. In:
Der Kampf, Nr.
11/1927,
S. 499–507, hier S. 502; Neon: Agitationstheater. In: Sozialistische Veranstaltungs-
gruppe, Das Politische Kabarett, S. 3; Schiller Marmorek: Das Festspiel des Prole-
tariats. In: Die Politische Bühne, H. 3/1932, S. 43f; Jura Soyfer: Politisches Theater.
In: Die Politische Bühne, Anfang März 1932, o.S.
18 Jura Soyfer: Politisches Theater. In: Die Politische Bühne, Anfang März 1932, o.S.
19 Neon [d.i. Robert Ehrenzweig]: Vierhundertmal Politisches Kabarett. In: Die Politi-
sche Bühne, H. 2/1933, S. 27f., zit. S. 28.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur