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Zur Rezeption des sowjetrussischen Theaters 237
eines „der wichtigsten literarischen Dokumente über das neue Russland“,75 für
Fritz Rosenfeld in der Arbeiter-Zeitung schonungslos in der Kritik an den selbst-
süchtigen Jongleuren mit revolutionären Schlagworten; zudem vermittle es ein
starkes Bild der Umwelt, in der die Studententragödie abläuft.76 Von der bür-
gerlichen Kritik wurde das in einem kleinen Theater gespielte Stück nicht zur
Kenntnis genommen; über die Reaktionen auf Mond von links von Vladimir
Bill’-Belocerkovskij, einem ebenso wie Vladimir M. Kiršon Stalin nahestehen-
den Autor, kann nichts gesagt werden, da die Aufführung, wie schon angemerkt,
in keiner Wiener Zeitung besprochen worden ist.
5 Schlussbemerkung
Bereits Ende 1921 verlor das von Keržencev propagierte autoaktive Arbeiter-
theater in Russland seine Autonomie und veränderte daraufhin tiefgehend seine
Praxis. Die Moskauer Blaue Bluse, die gewisse Prinzipien des Proletkults fort-
entwickelt hatte, wurde im Dezember 1928 aufgelöst, ein Jahr nach ihrer trium-
phalen, äußerst einflussreichen dreimonatigen Deutschlandtournee. Anfang der
1930er Jahre hatte, zugleich mit der Avantgarde, in der Sowjetunion das Agit-
prop-Theater in seiner traditionellen Form zu existieren aufgehört.77 Zur selben
Zeit erreichte die theatrale Agitationstätigkeit der Wiener Sozialistischen Ver-
anstaltungsgruppe in paradoxer Weise ihren Höhepunkt. Das Paradox bestand
darin, dass sich die Agitation umso mehr verstärkte, je mehr die Sozialdemo-
kratie an Einfluss verlor und in die Defensive gedrängt wurde. Daher rührt
die häufig geäußerte Kritik, die Veranstaltungsgruppe habe, vor allem mit den
Masseninszenierungen, die Illusion der Stärke der Arbeiterbewegung aufrecht-
erhalten und so die Widerstandskraft der Parteimitglieder geschwächt.78 In den
Szenen und Sprechchören der Roten Spieler ab 1932 aber richtete sich die Agita-
tion klarsichtig und praktisch ausschließlich gegen die Nationalsozialisten, deren
75 X.: „Rost“. Aufführung der Wiener Jungen Bühne in der Komödie. In: Das Kleine
Blatt (18.2.1931), S. 10.
76 Vgl. Fritz Rosenfeld: Revolution und Revolutionäre. „Rost“ von Kirchon
und Oubrensky. Aufführung der Wiener Jungen Bühne. In: Arbeiter-Zeitung
(18.2.1931), S. 6.
77 Vgl. Jean-Pierre Morel:
Les phases historiques de l’agit-prop soviétique. In:
Bablet, Le
théâtre d’agit-prop, S. 31–48.
78 Vgl. z.B. Roberto Cazzola: Die proletarischen Feste zwischen proletarischer Pro-
pädeutik und ästhetischem Ritualismus. In:
Wiener Tagebuch, Nr.
4/1981, S.
18–20;
Alfred Pfoser: Massenästhetik, Massenromantik, Massenspiel. Am Beispiel Öster-
reichs: Richard Wagner und die Folgen. In: das pult, Nr. 66/1982, S. 58–76.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur