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Marco
Hoffmann242
Russolos L’arte die rumori (dt. Die Kunst der Geräusche) augenscheinlich. Auf
die Distinktionsmerkmale beider Strömungen kann in diesem Zusammenhang
nicht genauer eingegangen werden. Zentral ist, dass die futuristische Strömung
in Russland sich explizit als eigene Bewegung verstanden hat. Dafür sprechen
die weit auseinanderliegenden politisch-ästhetischen Prämissen. Während der
Futurismus Marinettis faschistoiden Ideologien nahesteht10 und den Krieg als
„einzige Hygiene der Welt“11 glorifiziert, verbindet sich mit den Zukunftsvisio-
nen der russischen Avantgarde eine im Kern ‚menschliche‘ Gesinnung.12 So ist
der symbolische Sieg über die Sonne als Sieg über die aristokratischen Struk-
turen des in sich zerfallenden Zarenrusslands lesbar. Analog dazu können der
Aufbruch des futuristischen Menschen und seine Herrschaft durch die Mittel
der Technik in Parallelität zur industriellen Revolution gestellt werden.
Verfolgt man die russisch-avantgardistischen Entwicklungslinien, die sich
aus dem Futurismus speisen, weiter, verstärkt sich dieser Eindruck. Spätere
Komponisten betrachteten die Oktoberrevolution als Bestätigung ihrer der
Arbeiterschaft vermeintlich nahestehenden Ästhetik. Dabei nahmen sie die
Kluft zwischen Ungehörtem (beziehungsweise Unerhörtem) und der breiten
Volksmasse nicht als solche wahr, sondern wollten die neuen Ausdrucksmittel
als künstlerische Werkzeuge für die Überwindung einer überholten aristokra-
tischen Kultur verstanden wissen. Die politische Revolution verlief in dieser
Hinsicht zum Großteil kongruent zur musikalischen. Einer der bekanntesten
musikalischen Avantgardisten der Post-Revolutionszeit, der Komponist Arse-
nij M. Avraamov, leitete die Radikalisierung der Geräuschmusik in weitere,
der „linken“ Kunst zufließende Kanäle. Als Avraamov im Jahr der Oktoberre-
volution nach Russland zurückkehrte,13 begann er mit der Konzipierung seiner
Dampfpfeifensinfonien. Avraamov wurde dabei von Aleksej K. Gastjev, einem
10 Die Nähe des italienischen Futurismus zum Faschismus wurde schon von Walter
Benjamin in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“
kritisch erläutert. Dass Marinetti nicht nur Kriegsverherrlichung betrieb, zeigt die
Tatsache, dass das kriegerische Potential, die Zukunft zu verändern, als „prophetische
Vorwegnahme des kommenden allgemeinen Wandels“ galt, von dem man sich auch
das Ende der „Marginalisierung der Kunst“ schon vor dem Aufkommen des Futuris-
mus versprach (vgl. Eva Hesse:
Die Achse Avantgarde-Faschismus. Zürich:
Die Arche
2000, S.
230f.).
11 Filippo Tommaso Marinetti: Le Futurisme. Mailand: A. Mondadori Editore 1980,
S. 103.
12 Wenngleich zu sagen ist, dass die suprematistischen Künstler primär von der Provo-
kation ausgingen (vgl. Ingold, Der große Bruch, S. 130).
13 Dort wurde er zum Volkskommissar für das Bildungswesen berufen.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur