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Brands Oper Maschinist Hopkins und die Avantgarde 249
dieser Dreierkonstellation geschieht nun eine Urkatastrophe, die einen ähnlich
tragenden Einfluss auf den Verlauf der Handlung ausübt, wie der machthung-
rige Diebstahl des Rheingolds durch Alberich in Wagners Ring des Nibelun-
gen: Jim und Bill geraten in der nächtlichen Maschinenhalle in einen Kampf,
der mit dem Mord Jims, eingebettet in ein spukhaftes Setting von scheinbar leb-
haften Maschinen, endet. Die gesamte Handlung entwickelt sich nun aus dieser
Urszene heraus: Fünf Jahre später ist Bill zum profitsüchtigen Firmendirektor
aufgestiegen, der die Zukunft des Arbeitervolks in seinen Händen trägt, und
Nell, nunmehr seine Frau, verfolgt eine Karriere als Schauspielerin (Akt 1). Mit
seiner kriminellen Vergangenheit wird das Paar erstmals konfrontiert, als die
Titelfigur Hopkins, ähnlich wie ursprünglich der ermordete Jim, Lohnerhöhun-
gen für das Volk fordert, die Bill jedoch kühl kalkulierend ablehnt. Hopkins wird
gekündigt und erhält durch Erzählungen der Arbeiterschaft (Akt 2) Einblicke
in die zurückliegende Tat, erpresst damit zunächst Nell, um sie erfolgreich in
die Rolle einer Dirne zu zwingen (Akt 3), und später auch Bill, der dadurch
an Macht einbüßt. Die Handlung kulminiert in einem der Anfangsszene glei-
chenden Konflikt, der wiederum in der nächtlichen Maschinenhalle, diesmal
zwischen Bill und Hopkins, ausgetragen wird. In einem Akt religiöser, fast mes-
sianischer Kraft bezwingt Hopkins Bill und verkündet ein neues Zeitalter, das
von der einmarschierenden Arbeiterschaft und dem anbrechenden Tag, der die
Maschinenhalle göttlich illuminiert, besiegelt wird. Die Oper schließt mit den
höchst euphorisierten Rufen „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ im ganzen Volk, zu denen
Brand annotiert, dass der Eindruck erweckt werden solle, als marschierten die
Arbeiter „geradeaus in den Zuschauerraum“.38
Für die Reflexion eines solchen am Ende siegreichen „neuzeitlichen“ Men-
schen, so wie ihn auch der russische Futurismus herbeisehnt, ist der Protagonist
Hopkins – trotz Ambivalenzen39 – als direktes Sprachrohr der Maschinen, zu
welchen er sich mehrmals bekennt, zentral. Michael Heinemann schreibt der
Hopkins-Figur die Suggestionskraft für ein „neue[s] Menschentum in der Selbst-
aufgabe“ zu, das sich „zugunsten eines in organischem Zusammenspiel wirken-
den Mechanismus“ herausbildet.40 Individualität ist in diesem neuen Menschen
38 Partitur, S. 275.
39 Widersprüchliche Figurenzuweisungen entzünden sich vor allem an der Gerechtig-
keit, die er dem Volk zumisst, und den weit über das Maß moralischen Handelns
hinausgehenden Mitteln, mit denen er kämpft.
40 Michael Heinemann: Mythische Maschinen: zu Max Brands „Maschinist Hop-
kins“. In: Markus Böggemann/Dietmar Schenk (Hgg.): „Wohin geht der Flug?
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur