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Omasta und
Mayr296
Außer den Schauspielern arbeiten wir hier mit 25 Musikern und einem Gesangs- und
Sprechchor. Bei den Musikern handelt es sich um bekannte Namen; ein jeder ist ein
Solokünstler. Die Aufnahmen werden von der Deutschen Grammophon gemacht. Der
Aufnahmeleiter [Alois Johannes] Lippl hat die deutschen Texte umgeschrieben und
schon einige Stummfilme erfolgreich vertont. Der Hauptakzent liegt nicht auf den weni-
gen Sprechszenen, sondern auf der Konzeption einer Sinfonie. Wie man weiß, bietet
der Potemkin gute Möglichkeiten für ein solches Verfahren; die Sprechszenen sollen die
Handlung erklären und das Tempo beschleunigen.20
Dazu kommen allerhand Geräusche, für deren Erzeugung ein Ensemble von
Geräten bereitsteht: von der quietschenden Kaffeemühle über Steine in Sieben,
Donnerbleche und klirrende Glasflaschen bis zu Ratschen, mit denen einzelne
Schüsse oder Gewehrsalven vertont werden.
Die Tonfilmfassung des Panzerkreuzer Potemkin von 1.353 Meter (Lauf-
zeit: ca. 49 Minuten) passiert am 1.8.1930 anstandslos die deutsche Zensur und
wird einen Monat später, in der Woche vom 1. bis 6. September, auch in Wien
eingereicht und von der Magistratsabteilung 52, der Filmprüfstelle, zur Vorfüh-
rung freigegeben.
Anders als fünf Jahre zuvor findet der Film bei der deutschen Kritik durchaus
geteilte Aufnahme. Die hochgesteckten Erwartungen auch an die kommerziellen
Aussichten dieser Veröffentlichung erfüllen sich mitnichten. Stellvertretend für
das Echo in der deutschen Presse sei hier aus Herbert Iherings vernichtender
Würdigung der Tonfilmversion zitiert:
Die Matrosen reden jetzt. Organe, die zu den Gesichtern nicht passen, knarren Schlag-
worte. Alles verschiebt sich. Alles verbiegt sich. Wenn früher der Bildschnitt sprechend
war, so ist er jetzt zerstört zugunsten wirklicher Worte. Ein Filmdokument von histori-
schem Wert ist vernichtet zugunsten einer falschen Augenblickssensation. Ein barbari-
sches Unterfangen. Früher waren die Hungerrevolte, das schlechte Essen, die Würmer
im Fleisch nur Anfang, nur Anlaß, der eine längst vorhandene revolutionäre Gärung
zum Ausbruch bringt. Jetzt reden die Matrosen darüber, jetzt wird es banal, drama-
turgisch überakzentuiert und dumm. Die schlechte Kopie einer Piscator-Aufführung.
Ein Meisterwerk, das Epoche gemacht hatte, wird vernichtet. Nur ein Einzelfall? Oder
Zeichen einer allgemeinen Verwirrung? Zeichen einer allgemeinen Haltlosigkeit? Sym-
ptom für eine Reaktion, die nicht nur in Deutschland, die in Europa, die in der ganzen
Welt festzustellen ist?21
20 Oswell Blakestone: A Letter. In: Close-Up, Nr. 3/1930, S. 213.
21 Herbert Ihering: Singende Romanze und redender Panzerkreuzer. In: Berliner Bör-
sen-Courier (14.8.1930), S. 9.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur