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Evelyne
Polt-Heinzl302
andernorts gab es auch hier aktive Biotope, Gruppierungen und Einzelkämp-
ferInnen, die den Anschluss an die internationale Entwicklung fanden und das
Projekt der produktiven Aneignung der Moderne beförderten. Noch in einem
1994 erschienenen Band werden konservative bis reaktionäre Stellungnahmen
zusammengetragen, wenn es um einen Beweis für die Rückschrittlichkeit des
österreichischen Kulturbetriebs geht. Doch, dass Oskar Kokoschkas Gobelin-
Entwürfe 1908 Irritationen hervorriefen, „ein Jahr nach dem Entstehen von
Pablo Picassos ‚Demoiselles d’Avignon‘ “,2 sagt eigentlich nichts aus. Denn auch
in Frankreich stieß Picasso nicht selten auf Unverständnis, so wie in Österreich
Kokoschkas Bedeutung in fortschrittlichen Kreisen unbestritten war. Selbst die
These der „sich ausbreitenden Kunstfeindlichkeit und Provinzialität“3 im Aus-
trofaschismus ist etwas differenzierter zu sehen, immerhin war ein führender
Kulturfunktionär der Vaterländischen Front Carry Hauser.
Trotzdem fixieren die ersten Bestandsaufnahmen zum Thema Zwischen-
kriegszeit Anfang der 1980er Jahre ein Bild der „Stagnation und Orientierungs-
losigkeit“,4 auch indem sie den Eisernen Vorhang gleichsam einen Weltkrieg
vorverlegen. Aus der nationalen Kränkung über den Verlust breiter Teile des
einstigen Staatsgebiets der Monarchie wird im Rückblick eine radikale Isola-
tion. „Kontakte waren unterbrochen, die sich nicht wieder aufnehmen ließen,
Österreich, das Restösterreich der Ersten Republik war auf künstlerischem
Gebiet in einer Weise isoliert wie kaum je zuvor“,5 schreibt Wieland Schmied
1983, so als wären nicht weiterhin das Prager Tagblatt oder der Pester Lloyd
in allen Kaffeehäusern aufgelegen und KünstlerInnen beliebige Reiseoptionen
offen gestanden.
Dieses im Rückblick konstruierte Bild hat auch mit der ausschließlichen
Orientierung der kunsthistorischen Wertungs- und Periodisierungsmarken auf
die westlichen Metropolen zu tun. Doch die Moderne-Rezeption in der Ersten
Republik hatte auch eine Ressource in den Zentren der implodierten Donau-
monarchie, die vor allem die Künstlervereinigung Hagenbund in Ausstellungen
2 Michaela Pappernigg: Absperrung und Einsperrung. Einfluß der internationalen
Moderne in Österreich 1918–1938. In: Jan Tabor (Hg.): Kunst und Diktatur. Archi-
tektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjet-
union 1922–1956. Bd. 1. Baden: Grasl 1994, S. 106–111, zit. S.
106.
3 Wieland Schmied:
Die österreichische Malerei in den Zwischenkriegsjahren. In:
Erika
Weinzierl/Kurt Skalnik (Hgg.): Österreich 1918–1938. Geschichte der Ersten Repu-
blik. Bd.
2. Graz–Wien–Köln:
Styria 1983, S. 685–703, zit. S. 701.
4 Ebd., S.
685.
5 Ebd.
Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Title
- Der lange Schatten des ›Roten Oktober‹
- Subtitle
- Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938
- Author
- Primus-Heinz Kucher
- Editor
- Rebecca Unterberger
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-631-78199-9
- Size
- 14.8 x 21.0 cm
- Pages
- 466
- Category
- Kunst und Kultur