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Alcide De Gasperi und die österreichische Politik vom Reich bis zum „Anschluss“
Monarchie, in deren Innerem sich kulturelle Impulse verschiedener Sprachen
und Kulturen gegenseitig bereicherten. Damals war Karl Lueger, der charis-
matische Anführer der christlich-sozialen Bewegung, Wiener Bürgermeister.
Diese hatte sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts über Wien hinaus
in Österreich ausgebreitet und beraubte die konservativen Katholiken ihrer
Vormachtstellung und wurde zur ersten Massenpartei, die sich erfolgreich in
das österreichische parlamentarische Leben einfügte9.
In diesen Jahren begann eine intensive und wichtige Zeit für die Bil-
dung De Gasperis, in der sich seine Erfahrungen aus Wien mit denen aus
dem Trentino verflochten. Seine Tätigkeit als Vermittler zwischen den katho-
lischen Bewegungen in Österreich und Italien nahm mit der Veröffentlichung
von Artikeln in Medien des Trentino und Wiens seinen Anfang. Insbesonde-
re war er für die Zeitung „La voce cattolica“ – die 1906 unter seiner Leitung
zu „Il Trentino“ wurde – und für die christlich-soziale „Reichspost“ tätig.
Außerdem organisierte er Treffen und hielt Vorträge. Schon in seinen ersten
Diskursen wurden jene Themen behandelt, die in Zukunft kontinuierlich in
den Reden und in der Tätigkeit des jungen De Gasperi wiederkehren sollten10.
Er sprach von der gegenwärtigen Kultur, betonte mit Nachdruck die Notwen-
digkeit einer Wiedergeburt, einer christlichen Wiedereroberung im Bereich Kul-
tur und Gesellschaft, um dieses Christentum, sozial verstanden, innerhalb und
außerhalb des Menschen ausgeübt, im gesamten öffentlichen Leben zu etablieren11,
wodurch der atheistische und irreligiöse Sozialismus sowie der Laizismus
des liberalen Bürgertums bekämpft werden sollten. Das Christentum ver-
9 Zu Wien zwischen dem Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts siehe Carl E.
Schorske, Fin-de-siècle Vienna. Politics and Culture (New York 1980) it. Übers. (Mailand
1981); außerdem: Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 26 (2000)
255–390, mit einem Teil zum Thema „Vienna intorno al 1900 / Wien 1900“. Zu Karl Lueger
und die Christsozialen siehe: Richard S. Geehr, Karl Lueger: Mayor of Fin de Siècle Vienna
(Detroit MI 1990); John W. Boyer, Political Radicalism in late Imperial Vienna. Origins of the
Christian Social Movement 1848–1897 (Chicago IL 1981) besonders 184–521; Ders., Culture
and Political Crisis in Vienna. Christian Socialism in Power 1897-1918 (Chicago IL 1995) be-
sonders 5–59 zur Kommunalpolitik Luegers; Ders., Karl Lueger (1844–1910). Christlichsozia-
le Politik als Beruf. Eine Biografie (Wien–Köln–Weimar 2010) besonders 179–302.
10 Siehe dazu ausführlicher Guiotto, Un giovane leader politico 101–105.
11 Alcide De Gasperi, Il programma degli universitari cattolici trentini, Rede beim katho-
lischen Studentenkongress in Trient, der vom 28. bis 31. August 1902 stattfand, veröffentlicht
in: La voce cattolica 1 (1.–2. September 1902); nun auch in: De Gasperi, Scritti e discorsi politi-
ci, Bd. I/1: Alcide De Gasperi nel Trentino asburgico, hrsg. von Tonezzer, Bigarann, Guiotto
(Bologna 2006) 210–216. (Übers. d. Verf.)
Die schwierige Versöhnung
Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Title
- Die schwierige Versöhnung
- Subtitle
- Italien, Österreich und Südtirol im 20. Jahrhundert
- Authors
- Andrea Di Michele
- Andreas Gottsmann
- Luciano Monzali
- Editor
- Karlo Ruzicic-Kessler
- Publisher
- Bozen-Bolzano University Press
- Location
- Bozen
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-SA 4.0
- ISBN
- 978-88-6046-173-5
- Size
- 16.0 x 23.0 cm
- Pages
- 616
- Keywords
- 20. Jahrhundert, Österreich, Südtirol, Italien, Geschichte
- Categories
- Geschichte Nach 1918