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Einleitung
Im Jänner 1946 klagte der in Österreich stationierte sowjetische Leutnant
Michail M. Žiľcov, die Sowjetunion würde Europa niemals „ein- und überho-
len“. In Österreich gebe es in jedem Haus Strom, während die Dörfer in seiner
Heimat vermutlich nie elektrifiziert werden würden. Desillusioniert konsta-
tierte der 27-Jährige, in Österreich „gibt es Lüster, luxuriöse Häuser, Kleidung,
während meine Familie Hunger leidet und nichts anzuziehen hat“. Žiľcovs
„Lobpreisungen der kapitalistischen Ordnung“ blieben nicht ungestraft: Er
wurde seiner militärischen Funktion enthoben und aus der kommunistischen
Partei ausgeschlossen. Die zuständige Politabteilung klärte seine Kameraden
über die „Gefährlichkeit der Aussagen Žiľcovs“ auf. Seine Zweifel an der
„Überlegenheit des sowjetischen Systems“ wertete man als Folge „seines man-
gelhaften politischen Wissens und seiner ideologischen Zurückgebliebenheit“.1
Als sowjetische Truppen am 29. März 1945 bei Klostermarienberg erst-
mals österreichisches Territorium betraten,2 tauchten sie in eine feindliche,
weitestgehend unbekannte und nur schwer verständliche Welt ein, welche
die östlichen „Befreier vom faschistischen Joch“ durchaus nicht mit offenen
Armen begrüßte. Der Eroberung Wiens am 13. April 1945 durch die 2. und 3.
Ukrainische Front unter Marschall Rodion Malinovskij bzw. Marschall Fedor
Tolbuchin gingen harte Kämpfe voraus, und auch der übrige Vormarsch for-
derte gerade unter den Rotarmisten3 einen besonders hohen Blutzoll.
Angesichts dieser ersten Begegnungen mit der österreichischen Bevöl-
kerung kamen nun vielfach jene stereotypen Feindbilder zum Tragen, wel-
che die sowjetische Propaganda gemeinsam mit den Kriegserfahrungen im
Unterbewusstsein der Rotarmisten verankert hatte. Die verbreitete Angst,
1 RGVA, F. 38650, op. 1, d. 1222, S. 63f., Bericht des Leiters der NKVD-Truppen zum Schutz des
Hinterlandes der CGV, Generalmajor Kuznecov, und des Leiters der Politabteilung der Truppen,
Oberst Šukin, an den stv. Leiter der Hauptverwaltung der Inneren Truppen des NKVD, Sladkevič,
über antisowjetische Aussagen eines NKVD-Leutnants, 30.1.1946. Siehe dazu im Detail das Kapitel
B.I.1 „Erziehung, Disziplinierung, Kontrolle“ in diesem Band.
2 Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich ’45. Wien 1995, S. 126.
3 Der Begriff „krasnoarmeec“ („Rotarmist“) wurde in der sowjetischen Literatur vielfach ausschließ-
lich für die einfachen Soldaten der Roten Arbeiter- und Bauern-Armee (RKKA) benutzt. Im Fol-
genden wird „Rotarmist“ verallgemeinernd für alle Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte
verwendet. Vgl. dazu auch: Elke Scherstjanoi, Einleitung. Sowjetische Feldpostbriefe vom Ende des
Großen Vaterländischen Krieges als Quelle für historische Forschung, in: Elke Scherstjanoi (Hg.),
Rotarmisten schreiben aus Deutschland. Briefe von der Front (1945) und historische Analysen. Tex-
te und Materialien zur Zeitgeschichte. Bd. 14. München 2004, S. 3–22, hier: S. 3.
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Stalins Soldaten in Österreich
Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Stalins Soldaten in Österreich
- Subtitle
- Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
- Author
- Barbara Stelzl-Marx
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78700-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 874
- Categories
- Geschichte Nach 1918