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1. Der Wandel des Feindbildes: sowjetische Propaganda 83
Bis Anfang April 1945 gab die sowjetische Propaganda einschlägige Ra-
che- und Hassparolen aus, die sich gegen den „faschistischen Feind“ im All-
gemeinen richteten, ohne zwischen Deutschland und Österreich oder Sol-
daten und Zivilisten zu unterscheiden. Rache am Feind „in seiner eigenen
Höhle“ war die vorrangige Parole.72 Ganz in diesem Sinne wurde auch die 4.
Garde-Armee am Vorabend der „Schlacht um Wien“ auf ihren militärischen
Einsatz eingeschworen. Die Einnahme Wiens stilisierte der Militärrat dabei
als „bedeutenden Schritt zum letzten Unterschlupf der faschistischen Bestie“,
eine Metapher für Berlin, die auf Stalins Rede vom 1. Mai 1944 zurückging.73
Die Blicke des „sowjetischen Volks, die Blicke der gesamten demokratischen
Welt“ wären, so der Aufruf, „auf die sowjetischen Kämpfer“ gerichtet. Sie
sollten „mit voller Kraft“ und „entschlossen“ gegen den „Feind“ vorgehen
und auf den Straßen Wiens den „Widerstand des Gegners“ vernichten.
Auch an die einzelnen Waffengattungen richteten sich eigene Appelle.
Die Granatwerferschützen sollten „mit einer Lawine ihrer todbringenden
Minen“ Menschen töten und Material des Gegners in Schutt und Asche le-
gen. Von einer Rücksichtnahme auf die Zivilbevölkerung oder die historische
Bausubstanz der Hauptstadt war hierbei keine Rede. Im Gegenteil, Wien galt
als Station zum „nahen und endgültigen Sieg“, die so rasch und effektiv wie
möglich militärisch einzunehmen war. Denn, so wurde den Soldaten in Erin-
nerung gerufen, „viele Tausend sowjetische Menschen“ würden sich noch in
„faschistischer Sklaverei befinden“ und auf „ihre Befreier“ warten.74
Dieser häufig geäußerte Anspruch auf die Rolle der Roten Armee als
Befreierin,75 diesmal für Zehntausende von sowjetischen Kriegsgefangenen
und Zwangsarbeitern, zeigt die Doppelmoral der Moskauer Führung, die die
Sowjetbürger in deutscher Hand von Anfang an in Stich gelassen und unter
den kollektiven Verdacht des Vaterlandverrats gestellt hatte. Deren Leiden
setzten die „Politruks“ aber gezielt ein, um den Einsatz der Soldaten in dieser
letzten Phase des Krieges zu steigern. „Für die Qualen, für die Wunden wer-
72 Senjavskaja, Deutschland und die Deutschen, S. 258.
73 Stalin betonte in dieser Rede: „Heute ähnelt die Wehrmacht einem verwundeten Raubtier, das über
die Grenze kriechen muss, um im eigenen Bau, Deutschland, seine Wunden zu lecken. Doch so eine
Bestie bleibt immer gefährlich. Wenn wir die Gefahr der Versklavung endgültig von uns und un-
seren Alliierten abwenden wollen, müssen wir sie verfolgen und ihr im eigenen Bau den tödlichen
Schlag versetzen.“ Zit. nach: Merridale, Iwans Krieg, S. 309.
74 ACMVOV, VCH–199/78-89g, OF–17595, Aufruf des Militärrates der 4. Garde-Armee, 3.4.1945. Auf
diesen Aufruf verweisen auch: V. M. Latyšev – F. N. Čarupa, Pjataja gvardejskaja zvenigorodskaja.
Boevoj put’ 5-j gvardejskoj ordenov Suvorova i Krasnogo Znameni vozdušnodesantnoj divizii. Pod
redakciej M. I. Borisova, general-majora, professora Akademii Genštaba, Predsedatelja Soveta vete-
ranov 5 gv. VDD. Moskau 1991, S. 235.
75 Merridale, Iwans Krieg, S. 335.
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Stalins Soldaten in Österreich
Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Stalins Soldaten in Österreich
- Subtitle
- Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
- Author
- Barbara Stelzl-Marx
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78700-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 874
- Categories
- Geschichte Nach 1918