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II. Kriegsende in
Österreich86
nicht wörtlich nehmen. Wenn die Deutschen marodierten und unsere Frauen
schändeten, heißt das nicht, dass wir dasselbe tun müssen. Das war niemals
so und wird niemals so sein. Unsere Soldaten werden es nicht zulassen, dass
so etwas geschieht, nicht aus Mitleid mit dem Feind, sondern aus dem Gefühl
für ihre persönliche Würde. Sie wissen, dass jeder Bruch der militärischen
Disziplin nur die siegreiche Rote Armee schwächt. […] Unsere Rache ist nicht
blind. Unser Zorn nicht unvernünftig. […] In einem Anfall blinder Wut ist
man fähig, eine Fabrik im eroberten Feindgebiet zu zerstören – eine Fabrik,
die für uns wertvoll sein kann. Eine solche Haltung spielt nur dem Feind in
die Hände.“84
1.2.1 „Genosse Ėrenburg vereinfacht“
Der offizielle Schlusspunkt unter die Neuorientierung der sowjetischen Pro-
pagandapolitik wurde am 14. April 1945 gesetzt: An diesem Tag publizierte
Georgij F. Aleksandrov, Chef der Propagandaabteilung des ZK der VKP(b),
einen scharfen Artikel in der „Pravda“ unter dem Titel „Genosse Ėrenburg
vereinfacht“. Der Propagandachef schrieb darin: „Genosse Ėrenburg versi-
chert dem Leser, dass alle Deutschen gleich seien und dass alle in gleichem
Maße für die Verbrechen der Hitlerclique zur Verantwortung gezogen wer-
den sollen.“ Doch, so Aleksandrov weiter, „es ist nicht schwer zu zeigen, dass
die Überzeugung von Genossen Ėrenburg nicht den Tatsachen entspricht.
Nun konnte sich jeder überzeugen, und das wurde besonders durch die Er-
fahrungen der letzten Monate deutlich, dass unterschiedliche Deutsche un-
terschiedlich kämpfen und sich unterschiedlich verhalten.“ Dann zitierte der
Autor ausdrücklich Stalins Befehl vom 23. Februar 1942: „Es wäre lächerlich,
Hitlers Clique mit dem deutschen Volk, dem deutschen Staat gleichsetzen
zu wollen. Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass die Hitlers kommen und
gehen; das deutsche Volk, der deutsche Staat bleiben bestehen.“85
Mit dem Artikel maßregelte Aleksandrov offiziell Ėrenburg – und mit ihm
alle, die in ähnlicher Weise Texte geschrieben hatten. Entgegen den bishe-
rigen Vorgaben sprach sich der Propagandachef nun für ein differenziertes
Verhältnis zu den Deutschen aus. Auf diese Weise konnte Stalin gegenüber
den Westalliierten und der deutschen Öffentlichkeit signalisieren, dass
die Sowjetunion weiterhin an einer gemeinsamen Nachkriegsbehandlung
Deutschlands festhalten und eine Unterscheidung zwischen Nationalsozia-
84 Zit. nach: Werth, Russland im Krieg, S. 646.
85 G. Aleksandrov, Tovarišč Ėrenburg uproščaet, in: Pravda, 14.4.1945, S. 2; Kowalczuk – Wolle, Roter
Stern über Deutschland, S. 34f.; Semirjaga, Die Rote Armee in Deutschland, S. 204f.
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Stalins Soldaten in Österreich
Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Stalins Soldaten in Österreich
- Subtitle
- Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
- Author
- Barbara Stelzl-Marx
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78700-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 874
- Categories
- Geschichte Nach 1918