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3. Militärischer Vormarsch und Regierungsbildung 155
Aufgrund der Ergebnisse der Länderkonferenz einigten sich die alliierten
Oberbefehlshaber am 1. Oktober 1945, ihren Regierungen die Ausdehnung
der Befugnisse der provisorischen Regierung auf ganz Österreich vorzuschla-
gen.399 Die Zustimmung erfolgte bald, und am 20. Oktober wurde Renner
erstmals vom Alliierten Rat empfangen. General Richard L. McCreery, der
turnusmäßig den Vorsitz führte, übergab Renner ein Memorandum, das die
formelle Zustimmung zur Ausdehnung der Kompetenz seiner Regierung auf
das gesamte Bundesgebiet enthielt.400 In diesem Zusammenhang beauftragte
die sowjetische Regierung Marschall Konev, Staatskanzler Renner über ihren
Beschluss, diplomatische Beziehungen zur provisorischen Regierung aufzu-
nehmen sowie diplomatische Vertreter auszutauschen, zu informieren.401
Allerdings kam bald die Zeit, in der sich die Sowjets ihrerseits „etwas trös-
ten“ lassen mussten: Der Ausgang der Nationalrats- und Landtagswahlen am
25. November 1945, der ersten freien Nationalratswahlen seit 1930, übertraf
die schlimmsten Befürchtungen sowjetischer Diplomaten. Zwar hatte Niko-
laj M. Lun’kov von der 3. Europäischen Abteilung im NKID im Vorfeld der
Wahlen berichtet, dass man mit weniger als 20 Prozent der Stimmen für die
KPÖ rechnen müsse,402 doch lag das tatsächliche Ergebnis der KPÖ mit nur
5,4 Prozent sogar noch weit darunter. Die Mandatsverteilung im Nationalrat
lautete: ÖVP 85, SPÖ 76 und KPÖ vier. In den Ländern stellte die ÖVP sie-
ben von neun Landeshauptleuten, Wien und Kärnten blieben sozialistische
Hochburgen. Die KPÖ versank praktisch in die Bedeutungslosigkeit.403 Für
die sow jetische Führung war dies insofern besonders schmerzlich, als sie
ursprünglich gehofft hatte, durch Basisarbeit und wirtschaftliche Unterstüt-
zung den Kommunisten auf demokratischem Weg zu einem Wahlerfolg zu
verhelfen.
399 Bollmus, Staatliche Einheit, S. 711; Rauchensteiner, Der Sonderfall, S. 126.
400 Rauchensteiner, Der Sonderfall, S. 126; Herbert Friedlmeier – Gerda Mraz, Österreich 1945–1955.
Fotos aus dem Archiv des „Wiener Kurier“. Wien 1994, S. 15; RGASPI, F. 558, op. 11, d. 97, S.
80–85, Telegramm an Stalin über die Ausdehnung der Befugnisse der provisorischen Regierung,
19.10.1945.
401 Konev an Renner über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen, 20.10.1945. Abgedruckt in: Mi-
nisterstvo innostranych del, Sbornik osnovnych dokumentov. Bd. 1, S. 41. Vgl. Sokolov, Sowjetische
Österreichpolitik, S. 85.
402 AVP RF, F. 066, op. 25, p. 118a, d. 2, S. 61–62, Lun’kov an Dekanozov über das Gespräch mit Kiselev
zum Wahlkampf, 24.11.1945. Abgedruckt in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee
in Österreich, Dok. Nr. 57. Vgl. Rathkolb, Historische Fragmente, S. 152; Oliver Rathkolb, Sonder-
fall Österreich? Ein peripherer Kleinstaat in der sowjetischen Nachkriegszeit 1945–1947, in: Stefan
Creuzberger – Manfred Görtemaker (Hg.), Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Par-
teien im östlichen Europa 1944–1949. Paderborn – Wien – München – Zürich 2002, S. 353–373, hier:
S. 368.
403 Rauchensteiner, Der Sonderfall, S. 134.
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Stalins Soldaten in Österreich
Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Stalins Soldaten in Österreich
- Subtitle
- Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955
- Author
- Barbara Stelzl-Marx
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2012
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78700-6
- Size
- 15.5 x 23.0 cm
- Pages
- 874
- Categories
- Geschichte Nach 1918