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36 Tagebücher
hier wird das mißtrauen und der schreck täglich größer. die sparkasse
wird bestürmt, und bald wird es über die Bonds losgehen. das russische An-
lehen von 45 millionen ist geschlossen und 10 millionen schon angekommen.
die kaiserliche familie soll nahmhafte summen (einige sagen 19 millionen,
und die familie este 20 millionen) vorgeschossen haben.
die merkwürdigsten gerüchte circuliren im Publicum. erzherzog ludwig
und fürst metternich sollen abtreten (?), was großen Jubel erregt. erzherzog
Johann soll aus steyermark berufen worden seyn. erzherzogin sophie steigt
enorm in ihrer Popularität, und ich höre, daß man für sie eine öffentliche
demonstration vorbereitet.
übrigens kann nicht geläugnet werden, daß für leute, welche nach ihren
gefühlen statt durch raisonnement Politik machen, wie es bey unsern fai-
seurs und namentlich bey fürst metternich der fall ist, die letzten ereig-
nisse, d.h. die republik und die wirklich schändlichen excesse der massen,
ein wirksames, wiewol schlechtes Argument sind, um jede constitution, so-
mit auch jeden schritt dahin zu verdammen. so war es auch, hauptsächlich
am 1., als die Proclamirung der republik bekannt wurde und man von der
contrerevolution der mittelklassen noch nichts wußte. lato Wrbna, fritz
schwarzenberg und ihres gleichen triumphirten, sie sehen wieder den krieg
und Absolutismus, ich sagte gar nichts und politisire, d.h. raisonnire jetzt
überhaupt sehr wenig, denn die ereignisse sind bis jetzt noch zu embryo-
nisch, um ein urtheil fällen zu können. emerich Bethlen ist auch nicht viel
besser als ein altes Weib und renforcirte cassandra.
nach italien marschiren wieder truppen, erzherzog rainer zieht sich
nach verona, spaur ist abberufen und o’donnell, sein nachfolger, angewie-
sen, sich in Allem an radetzky zu halten, an des erzherzogs seite kömmt
montecuccoli als staatsminister, aber wieder ohne umfassende vollmachten!
Wratislaw kommandirt das 1. Armeekorps, Walmoden kommt ad latus des
feldmarschalls, ficquelmont ist hofkriegsrathspräsident, ich hätte nicht
einmahl soviel erwartet, und es geschah auch nur in dem ersten schrecken
der Pariser ereignisse.
noch vor 8 tagen, auf dem hofballe, sprach ich lange mit flahault über
die italienischen geschichten, und er äußerte sich mit aller der selbstzufrie-
denen sicherheit eines mannes, der auf festem Boden zu stehen glaubt, wie
hat sich für ihn seitdem Alles geändert!
Am 22. ist landtag, wahrscheinlich sogar noch früher, daß die Bera-
thungen, Besprechungen etc. unter den ständen immer häufiger und ern-
ster werden, versteht sich, auch ich bin sehr in Anspruch genommen, unter
den chefs, welche die einzigen sind, mit denen ich in Berührung komme,
herrscht der beste geist, in der plebs aber soll noch viel Ängstlichkeit und
übelangebrachte loyalität spuken. in Böhmen ist unter den ständen die-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien