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welches ich mit Bach ausgearbeitet hatte. Projekte zu Zeitungsunterneh-
mungen tauchen auf wie die Pilze, das ist jetzt Alles nebensache, jetzt gilt
es, das landvolk zu beruhigen, und dazu würde ich die jetzigen Provinzi-
alstände, jede in seine Provinz, berufen, denn da diese so ziemlich alle Be-
rechtigten repraesentiren, so sind sie dazu competent, freylich wird das ohne
große opfer von seite der grundherrn und wohl auch von seiten des staates
nicht abgehen, für Jene aber, welche 35 Jahre lang nichts thaten und es da-
hin kommen ließen, wo wir jetzt stehen, ist kein galgen zu hoch! sie sitzen
aber noch fast Alle am ruder!!
Auch für die Ausarbeitung des verfassungsentwurfes muß sogleich etwas
geschehen, aber auch hier ist man, soviel ich weiß, noch nicht einmal über
das Princip einig! ein Preßgesetz soll diese Woche erscheinen. es sieht elen-
diglich aus.
heute war der berühmte reisende moritz Wagner bey mir und brachte
mir ein schreiben von kolb, welcher mich beschwört, die Allgemeine Zeitung
nicht im stiche zu lassen,1 doch habe ich jetzt Wichtigeres im kopfe. sie hat
die Absicht, nach Wien zu übersiedeln, das wäre sehr gut, und dann würde
ich mich gerne daran betheiligen.
ganz deutschland ist in flammen, es zeigen sich Anfänge eines Bauern-
krieges in Bayern, Baden, Würtemberg, hessen etc. An mehreren orten
süddeutschlands soll kaiser ferdinand als deutscher kaiser proclamirt
worden seyn, so auch in schlesien. in Berlin scheint eine complete revo-
lution ausgebrochen zu seyn, seit 2 tagen fehlen Briefe und Zeitungen von
dort, kurz, die Welt ist ein babylonischer thurm geworden, das gemüthli-
che angenehme genußleben ist für unsere generation auf immer dahin, seit
8 tagen, es ist eine neue Welt, und die wohlbekannten alten straßen und
Plätze erhöhen nur den contrast. ich bin weit entfernt, den frühern Zustand
zurückzuwünschen, aber einer wehmüthigen erinnerung von Zeit zu Zeit
kann ich mich doch nicht erwehren.
[Wien] 24. märz
vorgestern erschien eine allgemeine Amnestie für politische vergehen, ist
hauptsächlich für Polen und italien wichtig. das Preßgesetz, von hofrath
Pederzani auf grundlage des badischen ausgearbeitet und einem comité von
litteraten, Juristen etc. mitgetheilt, erscheint diese tage und soll sehr libe-
ral seyn.
die bäuerlichen verhältnisse sind noch immer die dringendste Ange-
legenheit. obwohl das landvolk noch fast überall ruhig ist, so kann man
1 gustav kolb an Andrian, Augsburg 15.3.1848 (k. 115, umschlag 664): „das eis ist, hoffe
ich, bei Ihnen am Brechen; bei uns ist es gebrochen.“
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien