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auch am morgen that, und das ministerium war niederträchtig genug, diese
entlassung anzunehmen. obwohl die ganze stadt im voraus wußte, was ge-
schehen werde, waren nicht die geringsten vorsichtsmaßregeln getroffen,
und man überließ den alten mann 5 stunden lang schutzlos den volkshau-
fen! die indignation ist, wenigstens bey den Besserdenkenden, allgemein.
Pillersdorf ist in der sache nicht ganz rein.
seitdem ist die desorganisation im steigen, die universität ist ein wahrer
Jacobinerclub geworden und fraternisirt schon mit den Arbeitern, und die
nationalgarde selbst, wohl nur aus Angst, schmeichelt den studenten und
schließt sich an sie, die studenten (unter denen namentlich die mediziner
und techniker das radicalste, ja das republikanische element sind) haben
ein comité gebildet, welches die constitution überarbeiten soll!! sie wol-
len eine kammer und eine constituirende versammlung. nun hat auch die
nationalgarde ein politisches centralcomité gebildet (aus jeder compagnie
einer, also 160 köpfe), welches sich eine gleiche Aufgabe gestellt hat, bey
offenen thüren und unter dem geschrey und lärmen der studenten und des
Pöbels berathschlagt, und wo schon jetzt die radikalen die oberhand gewin-
nen, dauert das noch eine Weile fort, so wird ein förmlicher Wohlfahrtsaus-
schuß daraus! und die regierung benimmt sich schwach und schmachvoll,
wimmert und bettelt um geduld in Proklamationen und Zeitungsartikeln
etc. und läßt Alles geschehen, die Journale werden täglich zügelloser, franzö-
sische, polnische emissäre bearbeiten das volk, und es gibt weder eine Poli-
zey noch sonst etwas, kein Preßgesetz, gar nichts, wie soll das Alles enden?
sollen wir nicht einer schnellen Auflösung entgegengehen, so muß die-
ses ganz cabinet von elenden schlafhauben unverzüglich abdanken, das ist
auch im volke die allgemeine meinung, seit einigen tagen trägt man sich
mit neuen ministercombinationen herum, wobey ich als minister des Aus-
wärtigen fungire, auf der Börse stiegen in folge dessen die fonds momen-
tan um 5 %. von allen seiten werde ich befragt, ja ich erhalte sogar schon
mémoires über unsere auswärtigen verhältnisse, so heute von Jablonowsky
über die italienischen Angelegenheiten etc.
so ungern ich auch jetzt ein Portefeuille annehmen würde, indem ich mir
dadurch meine Popularität und meine ganze Zukunft verderben könnte,
so bin ich doch überzeugt, daß ein solches ministerium, durchgehends aus
männern der liberalen Partey zusammengesetzt und allenfalls auch durch
einige radikale schreyer als subalterne organe verstärkt, das einzige mittel
wäre, die monarchie zu retten, nur ein solches könnte, wenn es zuerst ein
entschieden liberales Programm aufstellte und einige populäre concessio-
nen schlag auf schlag ins volk würfe (anstatt sich diese, wie es die jetzigen
schafsköpfe thun, jedesmahl erst abnöthigen zu lassen), sodann energische
maßregeln ergreifen, wozu ich vor Allem die schließung der universität
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien