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Tagebücher96
erregte seine rede (namentlich da sie aus dem munde eines österreichischen
gesandten kam) einen wahren Beyfallssturm unter den Preußen. ihm ant-
wortete rob. Blum in seiner ruhigen, schneidenden, auf die gallerieen be-
rechneten Weise und führte einige tüchtige hiebe. dann kam lichnowsky
mit einer im höchsten grade leidenschaftlichen rede und versetzte die ver-
sammlung in eine fast fieberhafte Aufregung. er sprach theatralisch schön
von preußischer Waffenehre etc. mit einer unzahl kleiner aber vortrefflich
ausgeführter theatercoups, es war eigentlich der glanzpunkt der sitzung,
aber mit noch einigen solchen reden wird er sich den hals brechen, d.h. eine
masse erbitterter feinde machen, ohnehin hat er, schon weil er ein fürst ist,
eine menge Antipathien gegen sich. gleich nach dem commissionsberichte
hatte herr Zitz eine rede voll lügen und invectiven gehalten. das resultat
der 4stündigen sitzung war, daß man zur einfachen (nicht einmal zur mo-
tivirten) tagesordnung überging, ja nicht einmal den Berichterstatter und
den ursprünglichen Antragsteller Zitz mehr das Wort ließ. so erfreulich im
ganzen dieses resultat ist, so wünschte ich doch nicht, daß die majorität
ihr übergewicht in allzu brutaler Weise benütze, man fordert seine gegner
unnöthigerweise heraus.
morgen kommt der raveaux’sche Antrag zur Beratung, wir werden für
den vincke’schen Antrag auf motivirte tagesordnung stimmen und wohl die
majorität haben, ich habe möglichst dafür gewirkt, übrigens sind die oe-
sterreicher zum theile schwerer zu capacitiren als die Andern. Jeder will
nur seinem kopfe folgen, und wir haben eine bedeutende Zahl radicaler ele-
mente unter uns. für die organisirung der constitutionellmonarchischen
Partey geschieht viel, beynahe zu viel, d.h. von zu verschiedenen seiten, ne-
ben Jürgens und max gagern will ein graf Wartensleben sich durchaus zu
einem führer aufwerfen und veranlaßt Besprechungen über Besprechun-
gen, die aber meist unglücklich ausfallen, heute war eine solche, wobey die
oesterreicher, namentlich giskra (der elende Wicht) und sommaruga hart
aneinander geriethen. Wartenslebens Absichten auf unsere socratesloge
habe ich durch meinen diplomatischen coup von neulich (daß ich mich näm-
lich zum Präsidenten wählen ließ und dann im letzten Augenblicke die ver-
sammlung nach der mainlust verlegte) gesprengt, und so uns oesterreichern
das hausrecht in jenem locale erhielt [sic]. neulich hatte m. gagern die un-
glückliche idee einer verschmelzung mit dem linken centrum, ich bin gegen
alle derley vesuche.
heute in der sitzung kam in ähnlicher organisirungsabsicht herr v. ra-
dowitz zu mir und übergab mir das concept eines Programms, er wünschte,
daß ich, Beckerath, graf Arnim und noch ein Bayer es unterschreiben und
sodann gedruckt vertheilen möchten. obwol es (nach einigen von mir an-
gedeuteten Abänderungen) mir ganz wohl gefällt, so möchte ich doch nicht
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien