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Juni 1848
sehr verständiger, loyaler mensch, auf die tribüne und hielt eine leiden-
schaftliche Anrede an die rechte seite: sie möge nicht durch brutale gewalt
und majoritäten die vernunftgründe niederdrücken und der Wahrheit den
kopf abschlagen. darüber entstand dann lärm und gegenlärm, die linke
erhob sich und heulte in masse und drohte: es ist noch nicht aller tage
Abend etc. endlich ward Alles ruhig, und die sache ward fast einstimmig
an den Ausschuß verwiesen. die linke mag hierbey die Absicht gehabt ha-
ben, die öffentliche meinung irre zu führen und uns als die unterdrücker
Polens hinzustellen, oder aber vielleicht die, den eindruck einer vortreffli-
chen rede nerreter’s zu verwischen, der gegen die Ausschließung gespro-
chen hatte.
es zeigt sich immer mehr, daß die linke mit wenig Ausnahmen ein mise-
rables verworfenes gesindel ist, welches auch die schlechtesten mittel nicht
verschmäht, jetzt haben sie eben nichts geringeres im sinne, als die natio-
nalversammlung zu sprengen, und in den volksversammlungen, welche sie
täglich in der umgegend halten, wird dieses, und zwar selbst von Abgeord-
neten, Zitz, Arnold ruge, rühl, schlöffel etc., offen gepredigt. Wir wissen,
daß gewehre etc. von Paris hier bestellt worden sind, daß gegen 3000 hand-
werksburschen sich an den Pfingstfeiertagen hier einfinden sollen, daß die
turner her bestellt sind etc. ich hatte diesen Abend eine lange Besprechung
mit gagern darüber. die Bürgergarde, an 6000 mann, ist zwar vortrefflich,
obwol senat und Bürger sehr geängstigt sind, auch militär ist in der nähe
genug, aber wie dieses herbeyziehen, wenn nicht ein Beschluß der national-
versammlung, wie ich ihn gestern erwähnte, vorliegt? ob aber ein solcher
noch vor sonntag gefaßt werden kann, ist zweifelhaft, und der Bundestag
kann und will dieses odium nicht auf sich nehmen. morgen ist keine sit-
zung, und da wollen wir darüber ins reine kommen. es handelt sich nicht
nur um unsere haut, sondern um deutschland, werden wir gesprengt, so
wird hier die republik ausgerufen, und binnen 24 stunden geschieht ein
gleiches in Baden, Würtemberg, nassau, am rhein etc., die freyschaaren
im elsaß, ja vielleicht die franzosen, rücken ein, und dann ist die geschichte
los.
Wir haben heute bey Jürgens den grund zu einer Zeitung gelegt, welche
in unserm sinne wirken soll, ich bin in das comité getreten, es ist dieses
nothwendig, weil die radicale seite ein solches organ in der von Blum re-
digirten reichstagszeitung hat, nebstdem der lump Wiesner die oberpost-
amtszeitung in ihrem sinne redigirt, wiewol er die redaction jetzt verlieren
soll, in eben diesen und ähnlichen Blättern werde ich wie natürlich schmäh-
lich behandelt, da besonders meine ernennung eine Parteydemonstration
gewesen ist.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien