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Juni 1848
vereinbart werden dürfe, dann aber hauptsächlich dagegen, daß der natio-
nalversammlung überhaupt das recht officiell zugesprochen werde, andere
Beschlüsse zu fassen, als die sich auf die entwerfung des verfassungswerkes
beziehen. Zum glücke war auch schmerling zugegen, welcher sodann das
maximum auseinandersetzte, auf welches die regierungen in dieser Ange-
legenheit eingehen würden, und welches so ziemlich mit meinen Ansichten
übereinstimmte. es wurde in folge dessen beschlossen und auch in der ge-
strigen Abendsitzung des Ausschusses durchgesetzt, den frühern Antrags-
entwurf ganz umzuarbeiten. usedom, der preußische gesandte, war deßhalb
gestern lange bey mir, überhaupt habe ich, obwol nicht selbst mitglied des
Ausschusses für die centralgewalt, auf diese sache großen einfluß gehabt,
die idee des Prinzen triumvirates kömmt ebenfalls von mir, wenigstens
wurde sie auf meine Anregung wieder aufgenommen. früher waren schmer-
ling, camphausen und mathy schon so ziemlich designirt.
ich werde hier mit soiréen etc. geplagt und lerne nach und nach die ganze
frankfurter schöne Welt kennen. Alles beeifert sich, uns Artigkeiten zu er-
weisen, wobey gagern immer der lion ist, der mann ist wirklich der held
des tages, und ich gönne es ihm von herzen, denn er scheint mir eine durch
und durch edle chevaleresque natur, obwol ich ihn vielleicht nicht für einen
großen staatsmann halte. ich fürchte, er steht am culminationspunkte sei-
ner größe. dergleichen soiréen waren heute bey Brentano, neulich bey koch
etc., nebstdem gehe ich zuweilen Abends zu vrintz und manchmal zur grä-
finn Bergen, der Witwe des kurfürsten von hessen, eine recht angenehme
junge frau. im grunde ennuyirt mich dieß Alles, denn ich bin zu sehr mit
andern dingen beschäftigt und wörtlich mit Arbeiten todtgeschlagen. nebst
den öffentlichen sitzungen, die fast täglich von 9 bis 2 dauern, sitze ich dann
noch 4–5 stunden im verfassungsausschusse, wo entsetzlich déraisonnirt,
theoretisirt und vielregiert wird, ich fürchte, es wird ein unpraktisches
machwerk werden, welches von keinem deutschen staate, wenigstens nicht
von oesterreich, angenommen werden wird.
in Wien herrscht ein totaler katzenjammer, der nationalausschuß von
studenten, Bürgern etc. regiert, d.h. über Wien, denn außerhalb der linien
gehorcht ihm niemand. die Provinzen haben sich alle von Wien unabhängig
gestellt. dazwischen wankt das schmachvolle ministerium, der schandkerl
Pillersdorf voran, seinem grabe zu. Breuner, montecuccoli etc., alle die frü-
hern lieblinge des volks sind flüchtig und verfolgt, unsere Zeit ist für den
Augenblick vorüber, schon schimpfen die Wiener Blätter über meine Wahl
und bedauern, daß es nicht möring traf, ich bin vor der hand in Wien de-
passirt und kann nichts Besseres thun, als meine Zeit, welche gewiß bald
kommen wird, die Zeit der wiedererwachenden vernunft, in ruhe abwarten.
Was ich unter diesen umständen wünschen würde, wäre nichts anders als
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien