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Juli 1848
sprengung des reichstages als wie von einer ganz unschuldigen sache.
Während unserer Anwesenheit in Wien war schon circa 1/2 der sämmtli-
chen deputirten angelangt, und die vorbereitenden sitzungen dürften jetzt
schon begonnen haben, nur in Böhmen wird, der dortigen ereignisse we-
gen, erst jetzt gewählt.
ein großer theil jener deputirten, 50–60 meistens aus oesterreich, stey-
ermark und mähren, kamen in corpore zu uns, um uns zu begrüßen. Am
stupidesten erschienen mir unter ihnen die halbgebildeteten, während mir
die Bauern in ihrem einfachen anspruchlosen Sinne ganz wohl gefielen.
ich sprach sie in warmer rede an, und war selber sehr bewegt und suchte
ihnen hauptsächlich vertrauen auf sich selbst und das Bewußtseyn ihrer
hohen Bedeutung einzuflößen, um sie den Einflüsterungen der hiesigen
Agitatoren zu entziehen. Auch andere deputirte, z.B. die salzburger, ka-
men einzeln und zusammen zu uns, und ich sagte Allen dasselbe.
überhaupt waren wir, während wir in Wien waren, das orakel der dum-
men Wiener, die die wahren deutschen Abderiten sind. Alles wollte uns
sehen und hören. deputationen kamen unaufhörlich, um uns zu begrü-
ßen und einzuladen. Wir wurden auf kosten des hofes beköstiget, hatten
hof
equipagen, logen in mehreren theatern etc. man gab uns beleuchtete
theater mit festhymnen etc., stadtbeleuchtung, feuerwerke etc., kurz,
kaum ist je ein Potentat so behandelt worden, wie wir es wurden.
Am tage meiner Ankunft war ich Abends lange bey doblhoff, das mini-
sterium verstand sich nur ungern dazu, erzherzog Johann, der ihnen eine
feste stütze ist (obwol ich überzeugt bin, daß er sich in wenig Wochen de-
popularisirt hätte), wegzulassen, dieser aber hatte sich bereits entschlos-
sen die Wahl anzunehmen, es handelte sich also nur mehr um das Wann?
und da stellte ich die dringlichkeit seiner Abreise vor. Wirklich kam tags
darauf Wessenberg zu mir und erklärte mir, der erzherzog Johann werde
schon am samstag abreisen, was also noch früher war, als ich vermuthet
hatte, ich stimmte mit freuden ein. Am 18. aber müsse er wieder in Wien
seyn, um da den reichstag zu eröffnen.1
Am tage nach unserer Ankunft hatten wir unsere feyerliche Audienz,
hofgallawägen, spalier, unendlicher Jubel, Blumenregen etc. ich fuhr al-
lein in meinem Wagen voran, die andern zu 2 und 2. heckscher, welcher
unzweifelhaft als redner und vielleicht auch als praktischer geschäfts-
mann der bedeutendste unter uns war (daß mir die gewalt oder eigentlich
die unbefangenheit der rede bisher noch abgeht, fühlte ich auf dieser reise
lebhaft, und ich bin mit dem festen vorsatze zurückgekommen, nunmehr
1 der österreichische reichstag wurde schließlich am 22.7.1848 von erzherzog Johann feier-
lich eröffnet.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien