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Tagebücher140
[frankfurt| 20. Juli
Wir stehen jetzt am scheidewege. ob sich eine deutsche einheit überhaupt
herstellen läßt, ob oesterreich insbesondere unter dieser neuen gestaltung
bey deutschland bleiben kann, muß sich jetzt entscheiden. die centralge-
walt wird allem Anscheine nach so straff angezogen werden, daß eine selbst-
ständigkeit der einzelnen staaten nicht mehr möglich ist, der verfassungs-
entwurf, welchen wir nun seit 8 tagen im Ausschusse auf das lebhafteste
discutiren, nimmt ihnen alle auswärtige Politik und die oberleitung ihrer
militärmacht, und das muß er auch, wenn anders die einheit deutschlands
zur Wahrheit werden soll. das erkenne ich sehr wohl. Andererseits aber
frage ich mich: wird sich das österreichische volk dem fügen? und kann ich
als oesterreicher es wünschen, daß der heilige nahme oesterreich unter-
gehe und es eine Provinz von deutschland werde? daß den nichtdeutschen
theilen der österreichischen monarchie (für welche man erst einen namen
wird erfinden müssen) die volle Souverainetät, also auch die äußere Poli-
tik, ungeschmälert verbleiben werde, ist natürlich außer Zweifel, ebenso
gewiß aber ist, daß von den zwey theilen einer monarchie, wovon der eine
unselbstständig und eine bloße Provinz eines großen Bundesstaates, der
andere, größere und zukunftreichere hingegen vollkommen souverän ist,
also eine eigene europäische Politik und heeresmacht hat, daß von diesen
2 theilen binnen kurzer Zeit der letztere die oberhand gewinnen wird, der
kaiser wird nach Pesth ziehen, aus oesterreich wird ein ostreich werden,
und die deutschen theile werden sich bald ganz von diesem ostreiche ablö-
sen. das aber wollen wir nicht, das will namentlich ich nicht.
ich sehe aus diesem dilemma keinen Ausweg, als daß entweder oester-
reich ganz dem deutschen Bunde (welcher alsdann ein mitteleuropäischer
werden würde) beytrete, oder daß es ganz aus demselben austrete und
selbst einen Bundesstaat aus deutschen, slavischen, ungarischen, illyri-
schen etc. Provinzen bilde. ohnehin ist dieses meiner Ansicht die einzig
mögliche gestaltung oesterreichs. die Provinzialverfassungen müssen bey
uns die haupt-, der centrallandtag nebensache werden, und wenn sich
ungarn in folge der Wirren mit den croaten und slaven in mehrere Pro-
vinzen zersplittert, so ist dieses nur ein schritt dazu, denn ein compactes
ungarn und siebenbürgen würde den schwerpunkt eines solchen Bundes-
staates verrücken.
Aber wird ein solches Ausscheiden von deutschland jetzt möglich seyn?
in unsern deutschen Provinzen herrscht ein germanischer enthusiasmus,
welcher freilich nur auf unkenntniß der thatsachen beruht und, wenn ein-
mal die nackte Wirklichkeit da steht, bald verrauchen dürfte. mehr fürchte
ich das slavische element, und daß dieses durch ein solches Ausscheiden
zum praedominirenden würde.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume II
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- II
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 716
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien