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60 Tagebücher
gestern früh vor sonnenaufgang, das hatten uns die Wächter etc. der
sicherheit wegen empfohlen, obwohl ich den grund davon nicht begriff,
da ich die Beduinen nicht für langschläfer halte, marschirten wir ab, die
thalschluchten werden hier immer enger, öder und wilder, fels, gesträuch
und hie und da öhlbäume, dann zuweilen einige cisternen, der Weg selbst
über alle Begriffe schlecht, die kamehle kamen kaum fort, und ich ging
meist zu fuße. gegen mittag waren wir in gariet,1 dem netten dorfe des
ehemals gefüchteten häuptlings Abu-gosch. noch einmal, eine stunde vor
Jerusalem, kömmt man durch ein schönes freundliches thal, von da an
aber wird es kahler und schauerlicher als je, über einen hohen Berg, den
ich in meiner ungeduld voraus lief, dann eine lange steinigte Bergebene, so
daß die erwartung, Jerusalem zu sehen, immer und immer getäuscht wird.
ich war ganz in der stimmung, von dem ersten Anblicke dieser ersten
aller städte der Welt ergriffen zu werden, aber war es die lange erwartung
oder der unscheinbare Anblick Jerusalems von dem Punkte, wo man es
zuerst sieht, kurz ich fand mich sehr enttäuscht. man sieht zuerst nichts
als ein paar thurm- und minaretspitzen zwischen einigen öhlbäumen und
davor ein großes unförmliches türkengrab, kurz das ganze sieht aus wie
ein gewöhnliches orientalisches dorf. erst ein paar minuten ehe man ein-
reitet, hat man einen vollständigen Anblick der stadt. ich kam gegen 3 uhr
an, logirte mich, nachdem ich früher in das franziskanerkloster gegangen
war, in die casa nova ein, ganz elend, aß detto allein und vom kloster, fror
ganz jämmerlich, wie seit europa nicht, und fand einen ganzen haufen
Amerikaner und sonstiges gesindel von shepheard [sic],2 darunter einen
einzigen genießbaren engländer, einen katholiken captain Bridgeman.
[Jerusalem] 18. märz
man lebt hier in einem ganz ungewohnten elemente, nichts als kirchen,
klöster, sanctuarien, Bibel und geistliche intriguen. damit beschäftigen
sich die consulate, die regierung, der clerus und die gemeinde. mein alter
freund Pizzamano, bey dem ich seit gestern wohne, scheint seine stellung
vortrefflich auszufüllen und trotz der ungünstigen Verhältnisse, der An-
feindung der franzosen und ungenügender unterstützung durch unsere
regierung, trotz seiner fatalen stellung zum generalkonsul gödel in Bey-
ruth hier eine sehr bedeutende rolle zu spielen. dabey hilft ihm vornehm-
lich der umstand (den ich nicht wußte), daß oesterreich am meisten geld
hieher schickt, im durchschnitte ein paar millionen Piaster jährlich, durch
freywillige sammlungen, welche an das commissariat der terrasanta im
1 karjet, kirjath Jearim.
2 das shepherd hotel in kairo.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien