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Mai 1854
Preu erzählt mir ganz kuriose und wenig erfreuliche dinge über den
Zustand unserer marine und die Art, wie diese Angelegenheiten beym
obercommando behandelt werden. es scheint, daß Wimpffen (der übrigens
Brucks Widersacher ist) sich ganz von möring & c., von landratten und
Büreaukraten hat einfädeln lassen.
ich war gestern mit Preu in stambul, den Bazaars etc., als an einem don-
nerstage und da der ramadane herannaht, waren Bazaar und straßen voll
equipagen und frauen, darunter einige von wirklich blendender schönheit,
sie tragen hier schleyer von durchsichtigster gaze, welche also nicht mehr
wie im übrigen orient als verhüllung, sondern bloß als koketterie dienen,
überhaupt ist der Anblick dieser frauen zum unterschiede aller andern
orientalischen städte wahrhaft reizend, auf dem Platze des sultan Bajazid
sahen wir dann einen förmlichen corso von Wägen und frauen. darauf be-
gleiteten wir schreiner und schlechta (welcher letztere ein vollkommener
türke, dabey ein sehr angenehmer und amusanter junger mann ist) zu der
hohen Pforte und rauchten, während sie ihren geschäften nachgingen, in
reschid Paschas conferenzzimmer einen tschibouk.
heute vormittag fuhr ich bey stechender sonnenhitze nach Beschiktasch,
um den sultan von der moschee heimreiten zu sehen. er kam, 3 Paschen
(darunter riza Pascha, der seraskier) vor ihm und umgeben von zahlreichen
dienern zu fuße, sonst ohne Pomp, 2 Bataillone als spalier. ich grüßte, und
er dankte in seiner Weise sehr höflich, indem er mich 2mal fixirte, ein schö-
nes, interessantes leidensbild, im sattel mehr hängend als sitzend.
nach 2 uhr fuhren wir in großer gesellschaft, das internunciatursboot
und noch ein paar andere, das goldene horn hinauf zu den süßen Wässern,
wo wie jeden freytag eine menge menschen, vornehme und andere, beson-
ders damen (darunter der harem des sultans), und zahllose equipagen,
teleke etc. waren, ein eigenthümlicher und reizender Anblick, sowol die
gegend als die staffage. Zurück fuhr ich in einem kleinen gesandtschafts-
boote mit mayer, eine herrliche fahrt, in eyub stiegen wir aus, sahen die
schöne moschee, wo das schwert des Propheten bewahrt wird und die tür-
kischen sultane zuerst in europa ihr gebeth verrichteten, und die schönen
türkischen friedhöfe, beyde jedoch nur von Außen. das hiesige clima ist
ein perfides, beständige Windströmungen, große und häufige Temperatur-
wechsel und eine eigene stechende sonnenhitze. Auch leide ich schon seit
mehreren tagen an einem kolossalen schnupfen.
nächst london hat constantinopel am meisten auf mich den eindruck
einer Weltstadt gemacht, obwol die schmutzigen, winkligen scheußlich
gepflasterten Straßen durchaus keine Ähnlichkeit mit London biethen.
in stambul ist dieses etwas besser, auch ist da, wenigstens in einzelnen
thei
len, große stille und leere, während fast überall eine unglaubliche Be-
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien