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November 1854
gewagt werden, das scheint mir eine Art coup de désespoir von seite der
Alliirten, es wird ein fürchterliches Blutbad geben und im falle des mißlin-
gens eine catastrophe wie 1812.1
Auf den frieden werden diese ereignisse, wie sie auch kommen mögen,
keinen Einfluß haben, der unterliegende Theil wird jetzt auf keinen fall
vom frieden hören wollen, ein langer und mörderischer krieg ist die Wahr-
scheinlichkeit, sollte am ende die Barbarey und das kosakenthum siegen?
Auch das wäre nicht unmöglich, sind wir ja doch seit 1848 in rückgängiger
Bewegung, und vielleicht ist erst die kommende generation bestimmt, ihr
ende zu schauen.
Was aber werden wir thun? Wir handeln und negociiren und betteln
und klausuliren in ganz unwürdiger Weise, wir lassen uns durch Preußen
hinhalten, gestatten ihm, als Wortführer deutschlands aufzutreten, und
erhöhen selber seine Bedeutung, anstatt frischweg auf die eigene kraft zu
bauen, die Andern würden gezwungen nachfolgen. dazu, scheint mir, gibt
es noch immer russische und besonders antienglische Alteweibersympa-
thieen, die sich breit machen, wie wird es erst gehen, wenn einmahl die
Wiederherstellung Polens (wenn auch nur innerhalb der grenzen von 1815)
zur sprache kömmt, als die einzig mögliche Auskunft.
[Wien] 21. november
ich war neulich bey grünne, um meine sache wieder in fluß zu bringen,
doch sagte er mir, er könne dem kaiser nicht davon sprechen, weil dieser
es durchaus nicht leiden könne, wenn ihm irgend Jemand von dingen spre-
che, die nicht directe in sein ressort gehörten. die sache ist, daß grünne’s
stellung sich seit einiger Zeit sehr geändert hat, zwar nicht mehr als die
aller Anderen, welche um seine Person (sey es nun als minister oder als
Hofchargen) sind. Einfluß und Credit hat Keiner, und der junge Herr ver-
schließt sich immer mehr jeder discussion und nur halbwegs freyen rede –
fata trahunt. er rieth mir unter diesen umständen, mich entweder schrift-
lich an den kaiser zu wenden oder eine abermalige Audienz zu begehren, in
diesem falle aber noch etwa 1 monath abzuwarten, ich wählte das erstere,
da ich keine Zeit mehr verlieren will, und schicke heute oder morgen ein
kurzes gesuch ins cabinett, worin ich in erster linie um eine diploma-
tische Anstellung ansuche.2 früher will ich noch mit Buol sprechen, was
heute geschehen soll.
1 der untergang von napoleons russlandarmee.
2 der entwurf dieses gesuchs, datiert 21.11.1854, in k. 115, umschlag 666: „um so lebhafter ist
in solcher Zeit mein Wunsch, euer majestät nach meinen schwachen kräften dienen zu kön-
nen, um so größer meine hoffnung, daß eure majestät mir gelegenheit geben werden, meine
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien