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März 1855
gewesen, und rußland hat vielmehr gegen seine Zulassung zu der conferenz
gearbeitet, indem Preußen dadurch für den fall des scheiterns derselben
freye hand behält und immer mehr in russische Abhängigkeit verfällt.
die russischen noten, die Äußerungen des neuen kaisers etc. lauten alle
ziemlich friedlich, es kömmt hauptsächlich darauf an, was man dort unter
der „ehre rußlands“ versteht, und ob die öffentliche meinung und das na-
tionalgefühl dort wirklich so erregt ist, als man hört. hier wünscht man
den frieden sehnlichst, und der kaiser, dessen politische (wie jede andere)
capacität so ziemlich null ist, scheint auch daran zu glauben. Worte und
Gefühle bestimmen ihn, oder vielmehr Erzherzogin Sophie, deren Einfluß
ich noch immer für den einzigen reellen halte.
man schmeichelt sich hier, daß england sehr friedlich gestimmt sey, und
wirklich sprachen lord John russell und Westmoreland in diesem sinne,
ist es ein manœuver, um uns zu gewinnen, so ist es geschickt, mehr glaube
ich nicht. england kann unter dem moralischen eindrucke der schlappen,
welche es in der crim, in der nordsee und auf dem gebiethe seiner inneren
Verwaltung erlitten hat, keinen Frieden schließen, es würde seinen Einfluß
auf Jahre hinaus verlieren.
dagegen repraesentirt louis napoléon und Bourqueney die allerent-
schiedenste kriegspartey, die abenteuerliche reise des kaisers nach der
crim ist nur (um die conferenzen nicht zu beirren) aufgeschoben, nicht
aufgegeben, die eigentliche veranlassung dazu ist die desorganisation der
französischen Armée in der crim und der mangel an generälen, diesen
fehlt das Ansehen und die fähigkeit, man sagt, daß sich sogar spuren von
verrätherischen einverständnissen mit dem feinde gezeigt haben, und daß
unter den soldaten ein lautes geschrey nach changarnier, lamoricière etc.
entsteht. hier war man in der größten Besorgniß, den abenteuerlichen kai-
ser einen schönen morgen ankommen zu sehen.
Bruck hat das finanzministerium angenommen, sehr ungern, wie er mir
neulich sagte, als ich bey ihm war, ich glaube, er hat sich aufs eis führen
lassen, oder hat ihm seine eitelkeit und ungeduld einen streich gespielt.
versprechungen hat man ihm gemacht, was bedeuten aber diese bey uns?
das einzige Positive scheint die ernennung eines kriegsministers zu seyn1
(als welcher degenfeld genannt wird) und die Aufstellung eines ordentli-
chen militärbudgets (was aber nur in friedenszeiten möglich ist), das dann
nicht überschritten werden soll, wenn man daran glauben könnte! der
Anta gonismus zwischen Bruck und Bach wird immer schärfer hervortreten
und eigentlich die ganze geschichte seines ministeriums bilden, freylich
1 das kriegsministerium war im februar 1853 aufgelöst worden, seine Aufgaben übernahm
das Armeeoberkommando. Zu einer Wiedererrichtung kam es erst 1860.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien