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Tagebücher174
diesen gebiethen. eigentlich würden diese dinge, zur lebensaufgabe ge-
macht, eine weit größere Befriedigung gewähren als die schwankende, von
leidenschaft bewegte, unsichere speculation in Politik und geschichte.
Aber non omnia possumus omnes, und ich bin und bleibe einmahl auf diese
letztere angewiesen. Jenes Andere kann ich nur als angenehme lehrreiche,
interessante und beruhigende erholung betrachten.
[Wien] 2. may
endlich, aber erst seit 1 bis 2 tagen, scheint es ernstlich frühling werden
zu wollen, der gestrige tag war ziemlich warm und schön. die sonstige
herrlichkeit des Praters aber hat sich wie Alles Andere encanaillirt, demo-
kratisirt, der aristokratische alte Augarten aber ist ganz verschlossen.
Wir sind jetzt wieder in einem der, bey uns so oft dagewesenen, stadien
von unschlüssigkeit, möchten gerne dem kriege ausweichen und wissen
nicht wie? der kaiser, dessen politische (und sonstige) intelligenz sich täg-
lich in einem kläglicheren lichte zeigt, es gab eine Zeit, wo einige, freylich
selbst damals nur Wenige, aus ihm ein genie machen wollten, spricht Allen
von seinen friedenshoffnungen, wie er das schon seit 6 monathen thut,
ohne daß Jemand daran glaubt, es ist nicht mißtrauen in seine Wahrhaftig-
keit, sondern in seine einsicht. hess geht heute zur Armée nach galizien,
diese soll durch krankheiten etc. sehr herabgekommen seyn, der kaiser
soll in 14 tagen eine inspicirungsreise dahin antreten. das Alles wieder
nur als demonstration, wie wir überhaupt seit einem Jahre immer nur de-
monstrationen machen, dadurch aber de fil en aiguille immer weiter gezo-
gen werden.
die Ankunft l. napoléons ist einstweilen verschoben. ein Attentat, wel-
ches am 28. auf ihn geschah, war für viele ein unangenehmes memento
mori.1
es ist überhaupt ein eigenthümliches verhängniß, welches seit 1 1/2
Jahren über europa waltet. Jedermann ist hors de son assiette, hat sein
gleichgewicht verloren und thut, was er nicht sollte oder wenigstens nicht
thun will, das ist die folge der violenten rechtswidrigen unnatürlichen
lage, in die sich die meisten regierungen seit 1849 gebracht haben. ein
großer Weltkampf scheint hereinzubrechen, und die ihn am meisten fürch-
ten und das größte interesse daran hätten, ihre fleischtöpfe zu conservi-
ren, sind gerade die, die am meisten dazu beytragen, ihn herbeyzuführen.
Auch Bruck scheint mir ins Wackeln zu kommen, die mittelmäßigkeit
ist ansteckend und oft unüberwindlich. neulich sprach er mir für den fall
das friedens, oder nach Beendigung des krieges, von der herstellung der
1 der französische kaiser blieb bei diesem Anschlag unverletzt.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien