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Mai 1855
valuta als seiner ersten Aufgabe. das aber scheint mir, den stier bey den
hörnern anfassen wollen.
In dieser dreyfachen, politischen, finanziellen und administrativen, Kri-
sis, in der wir uns befinden, steht nun Alles still, materielle Verbesserun-
gen, unternehmungen etc., Alles, so günstig auch sonst die Zeitverhält-
nisse wären, das Ausland ist durch den französischen eisenbahnvertrag
(diese heillose verschleuderung) auf oesterreich aufmerksam geworden,
und von Allen seiten her kommen nun Anträge und Angebothe fremder
capitalisten. eisenbahnen, Bergwerke, salinen, credit mobilier, hypothe-
kenbanken etc., alle Arten von Projekten werden der regierung vorgelegt,
aber Alles stockt an der politischen ungewißheit und an der finanzkrise.
Preußen ist entschieden von uns abgewandt, und im falle eines krieges
wäre es nicht undenkbar, daß es offen auf rußlands seite träte. deutsch-
land oder vielmehr die deutschen regierungen aber stehen zu Preußen, das
ist also aus der chimäre eines mitteleuropas geworden! vor sebastopol will
es nicht vorwärts, und die Belagerung wird wohl aufgehoben werden müs-
sen, um so weniger können die Westmächte jetzt einen frieden schließen,
doch ist ihre bisherige kriegführung so lau, ungeschickt und zögernd, daß
man nicht recht weiß, was man davon denken soll. sie warten eben auf
uns, denn ohne uns und mit einer bewaffneten neutralität deutschlands ist
entweder gar kein krieg oder nur ein solcher möglich, der ganz andere Pro-
portionen und tendenzen annimmt, als es bisher der fall gewesen ist. Bey
uns aber sind allerley intriguen thätiger als je, und merkwürdigerweise
glaubt die Armée und namentlich die generalität an keinen krieg und will
keinen. Andererseits soll in rußland die kriegslust immer zunehmen, so
daß vielleicht gar von dort her der losbruch kommen könnte.
[Wien] 12. mai
es gibt noch immer abwechselnd ein paar kalte, windige unangenehme
tage nach einem schönen, so daß es noch lange nicht so schön und warm
ist, wie es zu dieser Jahreszeit seyn sollte. ich konnte bisher noch nicht im
Paradiesgarten frühstücken, ein frühlingsvergnügen, worauf ich mich lä-
cherlicherweise immer das ganze Jahr über freue, doch fahre ich oft nach-
mittags in den Prater und mache zu mittag glacispromenaden. Abends
gehe ich in die oper oder zu meiner gabrielle neuwall, welche ich täglich
lieber gewinne, je mehr ich sehe, wie unentbehrlich ich ihr geworden bin, es
ist das erstemahl, daß ich eine frau ohne Absicht, ohne Plan, ohne Begehr-
lichkeit liebe, und ohne an das ende dieses verhältnisses zu denken. sie ist
eine so liebenswürdige reine einfache natur (wie mir eine ähnliche noch nie
vorgekommen ist), daß ich unwillkürlich ihrem Einflusse folge. Der Typus
einer edlen deutschen frau.
„Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
Tagebücher 1839–1858, Volume III
- Title
- „Österreich wird meine Stimme erkennen lernen wie die Stimme Gottes in der Wüste“
- Subtitle
- Tagebücher 1839–1858
- Volume
- III
- Author
- Viktor Franz Freiherr von Andrian-Werburg
- Editor
- Franz Adlgasser
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2011
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-78612-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 476
- Keywords
- Viktor Andrian-Werburg (1813 - 1858), Revolution 1848, Austrian Neoabsolutism, Austria future (1842), Late Vormärz, Reform and Repression
- Category
- Biographien